Visionen von Architektur und Macht

SAP propagiert Business Process Management (BPM) als nächsten Schritt zur Serviceorientierung.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/10

     

SAP gibt sich selbstbewusst. Nachdem die Netweaver-Ankündigung vor zwei Jahren auch eigene Mitarbeiter und Partner einigermassen orientierungslos wirken liess, demonstriert der Business-Software-Riese jetzt eine bewusste Mischung aus Pragmatik und Vision. Die Versprechen von vor zwei Jahren sind zu einem grossen Teil eingelöst. Der Middlewarestack funktioniert, wenn auch nicht in allen Teilen ganz so gut, wie man das selber gerne sähe. Jetzt skizziert SAP mit Business Process Management (BPM) die nächste Etappe auf dem Weg zu einer serviceorientierten Architektur rund um die eigenen Applikationen. Auch die Allianz mit Microsoft in Form des Projekts Mendocino ist durchaus ein Zeichen von Stärke. Die Deutschen signalisieren, dass Microsofts Business Solutions keine unmittelbare Gefahr für das eigene Kerngeschäft darstellen.


Mendocino bringt Lizenzen

Gerade die Reaktion der Kunden auf Mendocino zeigt, dass SAP im Business-Software-Bereich zumindest in Europa heute eine Stellung innehat, die mit derjenigen von Microsoft bei den Desktopbetriebssystemen vergleichbar ist. Die Anwender reagierten auf die Ankündigung durch CEO Henning Kagermann anlässlich der europäischen Sapphire in Kopenhagen erfreut über die Integration von SAP-Funktionen und -Prozessen in eine spezielle Version des Office-Pakets von Microsoft. Endlich kommt für die nicht-spezialisierten Anwender in den Unternehmen eine Bedienungsoberfläche, bei der man den User nicht zur Nutzung zwingen muss, wie es der SAP-Verantwortliche eines Schweizer Anwenders formulierte. Man fühlte sich an Ankündigungen der Gates-Company erinnert, wenn der Hersteller für die Aufhebung eines schon lange beklagten Mangels – den die Anwender notabene mit zusätzlichen Lizenzen berappen werden – auch noch Applaus ernten darf. Durch die Integration von Macromedia-Flex in den Visual Composer steht zudem jetzt ein Werkzeug zur Verfügung, mit dem sich künftig weitere brauchbare Benutzerschnittstellen programmieren lassen.






Für SAP selber vergrössert Mendocino genauso wie der Ausbau des Business-Intelligence-Angebots in erster Linie den Kuchen, wie Technologiechef Shai Agassi sich ausdrückt. Durch die spezielle Office-Version hofft SAP, künftig alle Desktops einer Organisation mit einer Nutzerlizenz versehen zu können.


MDM und xI hinken hinterher

Im Zentrum der SAP-Zukunftspläne steht aber die Infrastruktursoftware. Mit sichtlichem Stolz präsentieren die Verantwortlichen heute 1500 Netweaver-Referenzen. Auch wenn darin nicht wenige Installationen aufgeführt sein dürften, die eher zwangsweise denn aus Integrationsgründen auf Netweaver aufsetzen, ist die Leistung doch beeindruckend. SAP hat sich in kürzester Zeit von einem reinen Applikationshersteller zu einem der wichtigsten Infrastrukturanbieter entwickelt.





SAP selber sieht Netweaver heute voll funktionsfähig. Unabhängigere Kreise machen allerdings zur Zeit noch einige Abstriche. Während das Portal und der Applikationsserver durchweg als gut bewertet werden, hört man etwa, dass das Master Data Management (MDM) noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein könne. Auch Jeff Comport, als Vice-President bei der Gartner Group für die Business-Software zuständig, sieht noch Lücken in Netweaver: «Das Master Data Management und die Exchange Infrastructure hinken noch hinterher.» Damit sind heute zwei zentrale Netweaver-Komponenten noch nicht ausgereift. MDM wird von SAPs Netweaver-Evangelist Shai Agassi immer wieder als Dreh- und Angelpunkt für jedes Integrationsprojekt hervorgehoben. Spätestens wenn gemäss der Vision in zwei Jahren die flexible Zusammenstellung von End-to-End-Prozessen möglich sein soll, wird ein funktionierendes MDM unverzichtbar sein.





Trotz den derzeitigen Mängeln zweifelt niemand daran, dass SAP über kurz oder lang ein befriedigendes zentrales Datenregister anbieten kann. Wenn die Walldorfer dies selber nicht auf die Reihe kriegen, können sie ja immer noch ein entsprechendes Drittprodukt integrieren. Die Exchange Infrastructure (xI) ist im Vergleich mit MDM schon weiter. Die aktuelle Version 3.0 ist laut Angaben aus Nutzerkreisen brauchbar. An spezialisierte Best-of-Breed-Integrationsprodukte kommt xI allerdings noch nicht heran.


Nach Netweaver kommt BPP

Netweaver ist für die Deutschen aber sowieso nur der erste Schritt zu einer serviceorientierten Architektur. Im SAP-Vokabular heisst diese ESA (Enterprise Service Architecture). Der nächste Schritt, der bis 2007 gemacht sein soll, führt zur BPP (Business Process Platform). BPP ist im wesentlichen ein um Business Process Management (BPM) erweiterter Netweaver-Stack. Schon heute bietet Netweaver gewisse BPM-Funktionalitäten. Künftig soll der modellbasierte Ansatz aber weitergetrieben werden und das eigentliche Programmieren in grossen Bereichen praktisch ganz wegfallen. In Kopenhagen demonstrierte Agassi das modellbasierte Erstellen von Business-Intelligence Dashboards. Die Vision ist, dass ganze End-to-End-Prozesse auf ähnliche Weise durch Nicht-Informatiker einfach zusammengesetzt werden können. Zentral hierfür wird das Enterprise Services Repository sein, eine Bibliothek von einzelnen Serviceschritten, die zu Prozessen kombiniert werden können. 500 Services hat SAP derzeit als Preview im Köcher. Ob diese in der Praxis brauchbar sind, wird in erster Linie von ihrer Granularität abhängen.


Offene Schnittstellen

Für die Anwender stellt sich zudem die Frage, wie BPP von SAP mit den entsprechenden Funktionalitäten von anderen Plattformherstellern zusammenarbeiten wird. In den meisten grösseren Anwenderunternehmen sind heute unterschiedlichste Plattformen im Einsatz, die über kurz oder lang alle mit einer eigenen Modellierungsschicht überzogen werden. Shai Agassi beantwortet die Frage nach der Interoperabilität betont offen. Man werde sich strikt an Standards halten und auch die Kontrollpunkte in den eigenen Applikationen für andere Hersteller offenlegen. «Wenn wir die Anwender nicht durch unsere Erfahrung gewinnen können, dann haben wir es nicht verdient», so Agassi auf die entsprechende Frage.





Aber auch bei aller Offenheit sind End-to-End-Business-Prozessen in der IT bis auf weiteres Schranken gesetzt. «Die Semantik der verschiedenen Lösungen ist nicht kompatibel», wie der Gartner-Analyst Comport erklärt. Für heterogene Organisationen werde es darum noch länger sinnvoll sein, BPM-Werkzeuge von unabhängigen Drittherstellern zu verwenden, die sich mit allen Plattformen gleich gut verstehen – oder sie bauen sich die Schicht selber. Für eigentliche SAP-Shops wird BPP jedoch sehr wohl eine Möglichkeit sein, sich dem Thema BPM zu nähern. Denn für viele Anwenderunternehmen ist BPM – im Gegensatz zur Integrationsproblematik, die Netweaver adressiert – noch weit vom Alltag entfernt.





Netweaver wird zur Business Process Platform


Service-Umsätze

Von BPP erhofft sich SAP aber auch konkrete Zusatzeinnahmen. Wachsen soll das Service-Geschäft. Die Kontrollpunkte, die für die Prozesssteuerung und -überwachung in die Applikationen eingebaut werden, ermöglichen nämlich auch die Fernüberwachung der Anwendungen. Vorstandsmitglied Gerhard Oswald, bei SAP für das Service- und Supportgeschäft zuständig, rechnet ab 2007 mit einem starken Wachstum in diesem Bereich. Dabei will SAP nicht nur die eigenen Anwendungen monitoren, sondern gegen ein entsprechendes Entgeld auch die gesamte Applikationslandschaft ihrer Anwender.





Die mit Netweaver begonnene Erweiterung von SAP in Richtung Infrastruktur hat für den ERP-Spezialisten neben der besseren Verankerung seiner Applikationen in den Anwenderunternehmen noch einen weiteren strategischen Sinn. Jetzt verfügt SAP über ein eigentliches Ökosystem, in dem Partner standardisiert Spezialapplikationen schreiben können, die sich dann einfach auf verschiedene Unternehmen innerhalb des jeweiligen vertikalen Zielsegments ausbreiten lassen. Inzwischen hat auch Oracle die Bedeutung eines definierten Middleware-Stacks erkannt. Die Amerikaner haben ihre bisher hauptsächlich als Einzelprodukte vermarkteten Infrastrukturwerkzeuge unter dem Namen Oracle Fusion Middleware zusammengefasst.





Roadmaps der wichtigsten ERP- und Middleware-Anbieter


Was nach BPP kommt

Es stellt sich die Frage, in welche Bereiche SAP nach dem BPP vorstossen wird. Die Integration weiterer Infrastruktur-Tools ist für den ERP-Spezialisten eine Möglichkeit, den Anwendern Sparmöglichkeiten zu bieten und gleichzeitig neue Umsatzmöglichkeiten zu erschliessen. Denkbar wäre beispielsweise eine Ausdehnung des Stack auf die Systemverwaltungsebene. HP Open View, BMC Patrol, aber auch EMCs Speichersoftware wären dann die nächsten Spezialisten, die SAP Kraft ihrer installierten Basis zu verdrängen versuchen wird. Denn in Walldorf rechnet man für die Zukunft nur noch mit drei wichtigen Plattformen: Microsoft, IBM und SAP.




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