Auch das Erfahrungs­wissen bewahren

Wie stellt man sicher, dass das (Erfahrungs-)Wissen der Mitarbeitenden nicht ­verloren geht? Das fragen sich zurzeit viele Unternehmen – auch weil in den kommenden Jahren zahlreiche Mitarbeitende altersbedingt aus ihrer Organisation ausscheiden.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2023/10

     

Wie sorgen wir dafür, dass wertvolles Wissen in unserer Organisation erhalten bleibt, und wie können wir dieses so speichern, dass es an andere Personen weitergegeben werden kann?» Das fragten sich Unternehmer schon, als der Begriff Wissensmanagement noch nicht existierte. So dachten zum Beispiel Händler und Landwirte darüber nach, wie man das Wissen, das sich im Laufe der Jahre in ihren Köpfen angesammelt hat, an die Nachkommen weitergeben kann. Und Spezialisten wie Handwerker fragten sich: «Wie vermitteln wir unser Experten- und Erfahrungswissen an unsere Mitarbeitenden?»

Seit Bestehen der Menschheit erfolgte diese Wissensweitergabe in mehr oder minder strukturierter Form. Doch lange Zeit wurde diese Wissensvermittlung nicht als ein Management-Prozess verstanden, der zielorientiert gestaltet werden sollte. Dieses Bewusstsein entwickelte sich erst im Verlauf der Industrialisierung, als


- immer grössere Unternehmen entstanden, die stets komplexere Produkte produzierten und verkauften, und

- die Arbeitsorganisation in ihnen immer arbeitsteiliger wurde, so dass auch mehr Wissensinseln entstanden, die über ein Spezialwissen verfügten.

In diesem Kontext gewann auch die Frage an Relevanz: Wie sorgt man dafür, dass die Wissensbasis einer Organisation nicht nur gewahrt bleibt, sondern sich auch so erneuert, dass das Unternehmen auch mittel- und langfristig erfolgreich ist?

Herausforderung: Vermittlung von Erfahrungswissen

In diesem Prozess wird zwischen dem expliziten und dem impliziten Wissen unterschieden – zwei Begriffe, die der Chemiker und Philosoph Michael Polanyi prägte, unter anderem in seinem 1958 erschienenen Buch «Personal Knowledge».

Unter dem Begriff explizites Wissen wird zumeist das Wissen subsummiert, das man unter anderem mittels Sprache, Schrift, Zeichnungen und Bildern eindeutig kodifizieren und dokumentieren kann. Hierbei handelt es sich weitgehend um das Regel- und Faktenwissen, das man beispielsweise in Form von Berichten, Lehr- und Handbüchern, Arbeitsanweisungen sowie Zeichnungen an andere Menschen weitergeben kann. Dieses explizite Wissen kann aufgrund seiner kodierten Form auf zahlreichen Medien gespeichert, verarbeitet und übertragen werden – auch online.


Der Begriff implizites Wissen hingegen bezieht sich auf das Wissen, das häufig als Erfahrungswissen bezeichnet wird. Dieses Wissen, das sich aus Erfahrungen, Erinnerungen und Überzeugungen speist, bezieht sich auf das Können einer Person oder Organisation. Es kann seinem Träger bewusst sein, muss es aber nicht. Auf alle Fälle lässt es sich aber nur schwer kodifizieren und dokumentieren und somit an andere Personen weitergeben.

Typische Beispiele für ein implizites Wissen im betrieblichen Kontext sind,

- wenn ein erfahrener Verkäufer intuitiv spürt, wie er sich bei gewissen Kunden taktisch verhalten sollte, damit er einen Auftrag erhält, oder

- wenn einem erfahrenen Techniker sein Gefühl sagt, dass zeitnah gewisse Wartungsarbeiten an einer Maschine vorgenommen werden müssen, um keine Probleme zu bekommen, oder

- wenn das Bauchgefühl eines Managers oder Unternehmers sagt, dass eine bestimmte Chance genutzt werden sollte, um langfristig erfolgreich zu sein, obwohl scheinbar alle Fakten dagegen sprechen.

Das implizite Wissen ist mit Einstellungen verknüpft

Beide Wissensformen sind für den Erfolg von Unternehmen wichtig, wobei jedoch in der Regel gilt: Das Vermitteln des expliziten Wissens fällt ihnen leichter – nicht nur, weil es sich dokumentieren lässt, sondern auch weil die Unternehmen hiermit in ihren Bereichen Aus- und Weiterbildung schon viel Erfahrung gesammelt haben.

Anders verhält es sich beim impliziten Wissen. Seine Vermittlung setzt oft voraus, dass es in einem gezielten Prozess der Externalisierung – beispielsweise durch eine systematische Befragung der Wissensträger oder eine Analyse ihres Tuns – zunächst in explizites Wissen umgewandelt wird, so dass es dokumentiert werden kann. Dieses Externalisieren ist beim impliziten Wissen aber häufig nur bedingt möglich, weshalb es anderen Personen oft nur in dialogischen Verfahren wie zum Beispiel Coaching- und Mentoring-Programmen weitergegeben werden kann.


Hinzu kommt: Das implizite Wissen ist mit Erfahrungen, aber auch mit teils durch sie bewirkten Einstellungen und Überzeugungen verknüpft. Deshalb ist bei Personen, die dieses Wissen verinnerlichen möchten oder sollen, nicht selten auch eine Einstellungs- und Verhaltensänderung nötig. Ansonsten entfaltet es keine Wirkung. Auch deshalb ist seine Weitergabe oft nur in dialogischen Verfahren möglich.

Rahmenbedin­gungen für neues Wissensmanagement

Dabei gilt die Faustregel: Je komplexer eine Aufgabe ist, umso mehr implizites Wissen muss zu ihrer Lösung übertragen werden. Dies ist insofern relevant, als in den letzten Jahren unter anderem im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung die Arbeit und die in ihr gestellten Anforderungen – zumindest in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden – stets komplexer wurden. Deshalb müssen die Unternehmen der Vermittlung des impliziten Wissens mehr Bedeutung beimessen, wenn sie vermeiden möchten, dass in ihrer Organisation immer mehr Wissensinseln entstehen, die letztlich

- die oft angestrebte hierarchie- und bereichsübergreifende oder gar unternehmensübergreifende Team- und Projektarbeit erschweren und


- dem Schaffen der erforderlichen Strukturen, um schnell und flexibel beziehungsweise agil auf neue Herausforderungen zu reagieren, im Wege stehen.

Neben dieser Herausforderung sehen sich die Unternehmen mit einer weiteren konfrontiert: Auch das explizite Wissen, also das Fach- beziehungsweise Faktenwissen, veraltet in der von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten ­VUKA-Welt (Volatilität, Ungewissheit, Komplexität, Ambiguität) rascher als früher. Dasselbe gilt für das externalisierte implizite Wissen: Alte Erfolgsrezepte taugen aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen oft nicht mehr beziehungsweise müssen regelmässig auf den Prüfstand gestellt werden. Zwar lässt sich heute das explizite Wissen, da es häufig elektronisch gespeichert ist, einfacher als früher aktualisieren und organisationsweit verbreiten, ungeachtet dessen müssen die Unternehmen es jedoch fortlaufend aktualisieren. Deshalb gilt heute mehr denn je: Wissensmanagement ist ein fortlaufendes Projekt (bzw. ein fortlaufender Prozess).

Wissensmanagement wird zum fortlaufenden Projekt

Dies haben inzwischen viele Unternehmen erkannt. Deshalb überdenken sie ihr tradiertes Wissensmanagement und versuchen es den veränderten Rahmenbedingungen und Anforderungen im digitalen Zeitalter anzupassen.

Dieser Prozess verläuft in der Regel wie folgt: In einem ersten Schritt wird zunächst, wie bei den meisten Projekten, die Ist- beziehungsweise Ausgangssituation analysiert. Fragen werden gestellt wie:


- Wie erfolgt das Wissensmanagement heute?

- Entspricht dies noch den Erfordernissen im digitalen Zeitalter?

- Lassen sich die Unternehmensziele, wie zum Beispiel schneller und flexibler auf Marktveränderungen zu reagieren, so noch erreichen?

- Wo besteht ein Änderungs- beziehungsweise Change-Bedarf?

Hierauf aufbauend stellen sich dann Fragen, die mit der Auftragsklärung zusammenhängen, wie:

- Welches Wissen wird (künftig) aufgrund seiner Erfolgsrelevanz benötigt und sollte deshalb kontinuierlich ausgebaut werden?

- Handelt es sich hierbei um explizites und/oder implizites Wissen?

- Wer sind die relevanten Wissensträger und wie lange stehen sie noch zur Verfügung?

Sind diese Fragen vorläufig geklärt, stellen sich Fragen wie:

- Welche Ressourcen (u.a. Zeit, Geld, Verfahren) stehen zur Wissensidentifikation, -dokumentation, -verteilung und -weiterentwicklung zur Verfügung beziehungsweise welche Ressourcen brauchen wir?

- Welche Rahmenbedingungen struktureller, kultureller und motivationaler Art sind erforderlich, damit in der Organisation ein fluider bereichs- und funktionsübergreifender Wissensmarkt entsteht?

Ziel: einen fluiden Wissensmarkt schaffen

Sind diese Fragen geklärt, können erste Versuchsballons gestartet werden. Wichtig ist, dass dies in einem iterativen Prozess geschieht, in den Reflexionsschleifen eingebaut sind. Dies, weil Unternehmen beziehungsweise Projektteams hierbei oft Neuland betreten – unter anderem weil ihnen die moderne Informations- und Kommunikationstechnik neue Möglichkeiten der Wissensidentifikation, -speicherung und -verbreitung bietet.

Zudem gilt es im Prozess- beziehungsweise Projektverlauf regelmässig zu überprüfen:


- Wird das erfolgsrelevante Wissen, das unsere Organisation (künftig) braucht, erhoben?

- Wurden die relevanten Wissensträger als Mitstreiter beim Versuch, einen fluiden Wissensmarkt zu schaffen, gewonnen?

- Gelangt das erhobene Wissen auch zu den Personen, die es für ihre Arbeit brauchen, und wird es von ihnen effektiv genutzt?

Diese Fragen gilt es sich im Projektverlauf immer wieder zu stellen, damit das übergeordnete Ziel erreicht wird: das Unternehmen fit für die Zukunft machen.

Der Autor

Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist unter anderem Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-Provence, der St. Galler Business-School und der technischen Universität Clausthal.


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