Scheitern erlaubt?!
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Scheitern erlaubt?!

Von Georg Kraus

Wer als Unternehmer scheitert, wird schnell als Verlierer abgestempelt. In Unternehmen kann ein gescheitertes Projekt sogar das Karriereende bedeuten. Dadurch berauben wir uns vieler Lernchancen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2018/04

     

Was ist ein Fuck-up? Das Gegenteil eines Start-ups – oder zumindest eine mögliche Konsequenz hiervon. Jahr für Jahr werden allein in der Schweiz über 40’000 Unternehmen gegründet; also weit mehr als 100 täglich. Doch nur jedes Zehnte hat Erfolg. Das heisst: Bei rund 36’000 Jungunternehmern und Selbständigen ist das Scheitern vorprogrammiert.

Und wenn sie scheitern? Sind die gestrandeten Unternehmer dann stolz auf diese Erfahrung und die Lehren, die sie hieraus zogen? Erzählen sie anderen davon, lecken ihre Wunden und starten gereift und gestärkt neu durch? Eher selten. Wer in der Schweiz, in Österreich oder Deutschland scheitert, schweigt. Scheitern ist tabu, denn es riecht nach Schwäche, schmeckt nach Fehlern. Im besten Fall erzeugt es Mitleid beim Gegenüber. Und im schlimmsten Fall ist der Misserfolg ein scharlachrotes Brandmal. Das Umfeld reagiert mit Abneigung und Ausgrenzung, versteckter Schadenfreude oder Häme. Ein "Loser" zu sein, ist nicht lustig. Es ist peinlich, ein Grund zum Schämen und Schweigen.

Über Misserfolge sprechen befreit

Doch seit circa drei Jahren gibt es eine Bewegung, die mit diesem Tabu bricht. Die Mexikanerin Leticia Gasca hatte die Geschäftsidee, Indio-Kunsthandwerk übers Internet zu verkaufen. Die Umsetzung ging schief. Zunächst hatte die junge Unternehmerin Hemmungen, über ihr Scheitern zu sprechen. Doch dann erzählte sie Freunden davon und merkte, wie wichtig es für sie war, diese Erfahrung zu teilen.

So entstand bei Leticia Gasca die Idee, regelmässig Fuck-up-Nights zu organisieren – Treffen, bei denen Menschen Geschichten von ihrem eigenen Scheitern erzählen. Und immer mehr Personen kamen. Denn die Frauen und Männer, die es sich erlaubten, offen über ihr Scheitern zu reden, erlebten dies wie eine Katharsis. Sie wurden wieder frei von Scham, Angst und Selbstverurteilung. Frei für den nächsten Versuch, den nächsten Start.


Inzwischen hat dieser Trend viele Länder erfasst. Und in zahlreichen Grossstädten finden regelmässig solche "Loser-Treffen" statt: Storytelling, um das Erlebte zu verarbeiten, und Misserfolge salonfähig machen. Das ist ein sinnvoller Weg, um nicht in einer Art Schockstarre zu verharren, sondern wieder Mut zu fassen, aufzustehen und durchzustarten.

Fuck-up-Nights: Auch sinnvoll in Unternehmen?

Solche Foren und Freiräume sind nötig – auch in Unternehmen; gerade in einem Umfeld, das von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägt ist. Denn in ihm scheuen sich nicht nur viele Vorstände, (Projekt-)Manager und Führungskräfte, sondern auch Mitarbeiter, die operative Verantwortung tragen, zunehmend, Risiken einzugehen – aus Angst, zu scheitern, am (gesellschaftlichen) Pranger zu stehen, das Stigma "Loser" auf der Stirn zu tragen. Doch wer soll in unserer Gesellschaft, in unseren Unternehmen noch herausfordernde Aufgaben übernehmen und zukunftsweisende Entscheidungen, die stets risikobehaftet sind, treffen, wenn wir eine Kultur tolerieren, die ein Scheitern verurteilt? Was passiert dann mit dem Unternehmergeist, dem Pionierdenken, der Entdeckerfreude, dem Veränderungswillen, der unsere Gesellschaft und die Unternehmen vorantreibt?

Thomas Edison, der Erfinder unter anderem der Glühbirne, erhob das Fehler-Machen und Scheitern zum Prinzip. Als ein Mitarbeiter nach dem tausendsten Versuch, eine marktreife Glühbirne zu entwickeln, sagte "Wir sind gescheitert", soll Edison erwidert haben: "Ich bin nicht gescheitert. Ich kenne jetzt 1000 Wege, wie man keine Glühbirne baut." Dieses Denken fehlt uns zunehmend. Wir haben vergessen, wie wertvoll die Erfahrungen sein können, die Menschen im Kontext von Misserfolg sammeln. Sie heben den Reifegrad und verbessern die Perfor­mance bei den nachfolgenden Aufgaben und Versuchen – wenn die Erfahrungen reflektiert und verarbeitet werden.


Doch leider fördert die Kultur in unserer Gesellschaft und in vielen Unternehmen das Gegenteil. Ein Scheitern ist nicht erlaubt. Und Menschen, die gescheitert sind, bekommen selten eine zweite Chance. Doch so kann kein Lernen erfolgen. Vielleicht sollte es auch in den Unternehmen Fuck-up-Nights oder -Meetings geben, in denen Mitarbeiter freimütig darüber berichten, wie sie zum Beispiel
• ein Projekt krachend an die Wand fuhren, oder
• eine Auftragschance so richtig vergeigten, oder
• einer absoluten Fehleinschätzung unterlagen, oder
• zu lange an einer falschen Strategie festhielten.

Ein Umdenken ist nötig – auch im HR-Bereich

Ausser die Köpfe der "Gescheiterten" würde dies auch die Köpfe vieler ihrer Kollegen wieder freier machen, die in der ständigen Angst leben: "Das darf mir nicht passieren, sonst...". Vermutlich würden solche Nächte oder Meetings einen Beitrag dazu leisten, dass Fehler als Chance gesehen werden und Personen, die auf dem Holzweg sind oder waren, sich und anderen offen eingestehen können: "Das ist zwar dumm gelaufen, doch ich habe daraus viel gelernt."

Auch die Personalverantwortlichen sollten umdenken. In vielen Unternehmen bedeutet zum Beispiel ein gescheitertes Projekt noch das Karriere-Aus. Also wird das sich abzeichnende Scheitern so lange verschwiegen, bis die Fehlentwicklung zum Himmel stinkt, und mittelmässige Ergebnisse werden so stark beschönigt, dass sie in gleissendem Licht erstrahlen. Und bewirbt sich ein gescheiterter Selbständiger bei Unternehmen? Dann fassen ihn diese, wenn überhaupt, meist nur mit Glacéhandschuhen an. Dabei sollten solche Bewerber einen Bonus haben, denn sie zeigten Eigeninitiative und -verantwortung und wissen, wie man gewisse Dinge nicht machen sollte, wenn man erfolgreich sein möchte.


Eigentlich sollten die Personalverantwortlichen in den Unternehmen Bewerber – zumindest solche, die sich für eine Position bewerben, die viel Eigeninitiative und -verantwortung erfordert – in Vorstellungsgesprächen stets fragen:
• "Sind Sie in Ihrem (Berufs-)Leben schon einmal so richtig gescheitert?". Und:
• "Was haben Sie daraus gelernt?".

Und wenn auf die erste Frage nichts kommt, dann sollten sie sich überlegen: Stellen wir diese Person wirklich ein? Denn dann hat der Bewerber für seine künftige Position sehr wichtige Erfahrungen noch nicht gemacht. Oder er hat sie verdrängt. Oder er lügt. In allen drei Fällen ist er wohl nicht der Richtige.

Auf Warnsignale achten und hören

Wenn wir das Tabu des Scheiterns auflösen möchten, muss sich auch unsere Reaktion auf Warn- oder Alarmsignale ändern. Meist reagieren Personen (und Organisationen) heute auf ein sich abzeichnendes Scheitern wie folgt:

Reaktion 1: Verdrängung. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Die Realität wird ausgeblendet, Warnsignale und Fakten werden verdrängt.

Reaktion 2: Augen zu und durch. Dieses Verhalten registriert man oft bei Selbständigen, deren Business scheitert. Statt Insolvenz anzumelden und an die Öffentlichkeit zu gehen, werfen sie gutem Geld schlechtes hinterher – häufig mit der Begründung: "Jetzt hab ich schon so viel investiert, da kann ich doch nicht einfach aufhören...". Augen zu und durch! Dieses Verhalten beobachtet man auch in Unternehmen – zum Beispiel bei Projekten. Spricht man mit Beteiligten über gescheiterte Projekte, dann sagen sie oft: "Eigentlich war uns vor einem Jahr schon klar: Wenn wir unsere Strategie, unser Vorgehen, unsere Ziele nicht ändern, dann erleiden wir Schiffbruch." Doch Stopp sagen? Auf keinen Fall! Denn das wäre ein Eingeständnis des Scheiterns. Oft sind genau dies die Momente, in denen die Beteiligten dringend Unterstützung bräuchten, jemanden, um sich auszutauschen und neu zu finden. Doch fatalerweise sind genau dies auch die Momente, in denen viele von uns dicht machen, die Ohren zuklappen und nicht mehr aufnahmefähig sind. Augen zu und durch!

Es ist paradox: Gerade in Stress-Phasen, wenn wir einen klaren Kopf bräuchten, verlieren viele Menschen diesen; ebenso ihren messerscharfen Verstand und ihre Fähigkeit, sich zu entscheiden. Und genau dann, wenn sie die meiste Energie bräuchten, um Lösungen zu finden und neue Wege zu beschreiten, fehlt ihnen diese. Sich dessen bewusst zu sein, ist gerade für Führungskräfte wichtig – nicht nur, um Mitarbeitern im Bedarfsfall die nötige Unterstützung zu gewähren. Auch ihr eigenes Befinden und Handeln sollten sie gut im Blick haben, damit sie merken, wenn etwas ins Ungleichgewicht gerät und sich in ihrem Inneren solche warnenden Stimmen melden wie:
• Achtung, ich bin nicht mehr Herr der Situation. Oder:
• Achtung, ich bin nicht mehr souverän.

Die Chancen im Scheitern sehen und ergreifen

Führungskräfte, die beim Registrieren solcher Warnsignale innehalten und alleine oder mit einem Unterstützer ihre Ängste und ihr Verhalten reflektieren, haben eine grosse Chance, das sich abzeichnende Scheitern abzuwenden; diejenigen jedoch, die dicht machen und in der Sackgasse stecken bleiben, knallen gegen die Wand.

Deshalb der Appell: Achten Sie auf Ihre inneren Warnsignale. Versuchen Sie, früh zu erkennen, wann die Gefahr besteht, dass Sie in einer Sackgasse landen. Und suchen Sie sich dann jemanden, mit dem Sie die Situation reflektieren können. Denn nur, wenn wir es wagen, uns die Möglichkeit eines Scheiterns einzugestehen, können wir uns von den Automatismen lösen, in die wir oft verfallen, wenn ein Scheitern droht. Und nur wenn wir uns unser (partielles) Scheitern eingestehen, sehen wir auch die Chancen, die hieraus entstehen.

Der Autor

Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal (www.kraus-und-partner.de). Er ist u.a. Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-Provence, der St. Galler Business-School und der technischen Universität Clausthal.


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