Klaffende Schlucht trennt Hardware und Software

Die Wahl zwischen immer schneller und gleich schnell, aber viel günstiger, wird zur Qual: Wenn es schon 2 Gigahertz gibt, dann brauche ich die doch auch, oder etwa nicht?

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/23

     

Mein Freund O. ist verwirrt. Er ist totaler IT-Laie, möchte aber gelegentlich im Web surfen, ohne jedesmal das sündteure Internet-Café zu beanspruchen. Ein eigener Computer muss her. Da war doch kürzlich der Dell mit 1,7 GHz für 2000 Franken im Angebot, und jetzt gibt es schon das 2-Giga-Modell für weniger? Wie kommt das? Die Sache wird umso pikanter, als der Kauf erst auf Ende Jahr vorgesehen ist. Die Wahl zwischen immer schneller und gleich schnell, aber viel günstiger, wird zur Qual: Wenn es schon 2 Gigahertz gibt, dann brauche ich die doch auch, oder etwa nicht?


Hardware mit Siebenmeilenstiefeln

Das Beispiel zeigt eines: Ungeachtet der Anwenderbedürfnisse grassiert die Hardwareleistung krebsartig. Dies gilt sowohl für Mikroprozessoren - gemäss Intel-Vice-President Paul Otellini darf man bis 2006 mit Taktfrequenzen von 10 Gigahertz auf Basis der aktuellen P4-Architektur rechnen, von anderen Prozessortypen ganz zu schweigen - als auch beim Speicher: 120-Giga-Harddisks werden einem nachgeschmissen, und das IBM-Forschungslabor im schönen Rüschlikon bringt mit der Millipede-Speichertechnologie einerseits den Inhalt von 25 DVD-Scheiben auf eine briefmarkengrosse Nano-Lochkarte und läuft damit andererseits Gefahr, schon wieder mit Nobelpreisen belästigt zu werden.



Es dürfte also auch mittelfristig so weitergehen, wie wir es uns seit Jahren gewohnt sind: Das frisch gekaufte IT-Gerät ist schon hoffnungslos veraltet. Die explosive Evolution der Hardware, gepaart mit Marketing-Überlegungen und Just-In-Time-Produktionsstrategien, hat zur Folge, dass schon wenige Jahre nach Einführung die meisten Komponenten nicht mehr erhältlich sind. Ich zum Beispiel hatte die Illusion, ich könne meine Workstation (ein 866-Megahertz-Pentium-III-Modell mit Dual-Processor-Board) mit einem zweiten Prozessor ergänzen. Das ist, Hersteller sei Dank, drei Jahre nach dem Kauf nicht mehr möglich: Intel stellt den Prozessor nicht mehr her, und HP hat kein einziges Upgrade-Kit mehr am Lager. Nur als "Ersatzteil" wäre der PIII noch zu haben, Kostenpunkt: Viertausend Franken. Soviel zum Investitionsschutz bei Markenprodukten.





Software tritt an der Stelle

Nur wenige User profitieren jedoch wirklich von der Hardware-Explosion. Zum Beispiel Game-Süchtige, deren Grafikkarten gar nicht genug Millionen Polygone pro Sekunde verarbeiten können. Oder Wissenschaftler, deren täglich Brot aus komplexen Wettermodellen, verwirrlichen Strömungssimulationen oder knacknussartigen Finanzanalysen besteht. Was aber fängt Lieschen Normaluserin mit dem State-of-the-Art-PC an, den ihr die Marketingstrategen der Hersteller mit allen Mitteln schmackhaft machen wollen?



Der Brief an die Lieben schreibt sich mit hundert Megahertz nämlich genauso flott wie mit zweieinhalb Gigahertz; Gleiches gilt für Geschäftskorrespondenz aller Art. Auch die Multimedia-Euphorie ist beim Anwender beileibe nicht so gross wie beim Anbieter: Die wenigsten User schneiden auf ihrem PC ohne Unterlass Digitalvideos und benötigen wirklich ein High-End-System.




Kurz: Es fehlen alltagsgerechte Applikationen, die mit der enormen Hardwareleistung etwas anfangen können. Productivity-Software ist funktional auf dem Stand vor zwanzig Jahren stehengeblieben. Beispiel Office: Die XP-Generation überzeugt zwar mit farbigem Interface, besteht aber nach wie vor aus den gleichen Programmen. Die haben zwar immer mehr "Features", aber seit Jahren schon keine revolutionär neuen Grundfunktionen erhalten.



Noch immer gibt es zum Beispiel keine wirklich funktionierende Spracherkennung - weshalb wohl haben die PC immer noch eine Tastatur? Künstliche Intelligenz, von verschiedenen Staaten in aufgeblähten Forschungsprogrammen schon vor Jahren zur Chefsache erklärt, findet sich in allgemein verfügbarer Software allenfalls im Ansatz. Der "Computer" aus Star Trek, der mündliche Befehle nicht nur versteht, sondern aus Diktion und Stimmlage Seelenzustand und Absichten des Sprechers erkennt, ist so weit entfernt von der Realität wie Frankreich vom Weltmeistertitel. Noch grösser ist die Distanz zwischen handelsüblichen Übersetzungsprogrammen und brauchbaren Ergebnissen - wenigstens wartet diese Softwaregattung aber mit einem nicht unerheblichen Erheiterungsfaktor auf.



Vielleicht ist es ja so wie in der Autoindustrie: Solange bewährte, jahrzehntealte Konzepte wie Ottomotor und Office-Suite sich, leicht aufgemotzt, weiterhin so gut verkaufen lassen, besteht wenig Anlass zum Wechsel auf eine neue Generation. Weder die Wasserstoffwirtschaft noch der intelligente PC dürften in nächster Zeit Realität werden.



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