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Kopfarbeiter brauchen neue Lösungsansätze

In den letzten 40 Jahren hat sich die Schweiz von einer gemischtwirtschaftlichen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. Integration in diese Unternehmensform erfordert neue Eingliederungsmassnahmen, da heute psychische Tiefs zum Job gehören wie die Grippe im Winter.
Reto von Steiger, Rechtsanwalt, Leiter der IV-Stelle Zürich

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2007/12

     

Die Invalidenversicherung besteht seit 1960. Im Zentrum des Eingliederungsgedankens standen 1960 die somatisch behinderten Personen, zum Beispiel Rollstuhlfahrer, welche die schweizerische Volksschule besucht haben. Für diese Personen kann die IV heute sämtliche notwendigen Eingliederungsmassnahmen übernehmen, welche die berufliche Förderung bezwecken. Das war adäquat in den 60er Jahren, als rund 50 Prozent aller Arbeitsplätze im Industriesektor zu finden waren. Mittlerweilen sind aber im Industriesektor lediglich noch 20 Prozent der Arbeitsplätze vorhanden. Das Risiko von körperlichen Unfällen ist dem-
entsprechend in den letzten Jahren gesunken. 75 Prozent
aller Arbeitsplätze befinden sich dagegen heute im Dienstleis-tungssektor. Die meisten Dienstleistungstätigkeiten stellen mehr Anforderungen an den Kopf als an den Körper. Die Gefahr von dauerhaften Kopfermüdungserscheinungen und dadurch verursachte Arbeitsunfähigkeiten resp. Erwerbsunfähigkeiten haben entsprechend deutlich zugenommen. Die seit 1970 steigenden Zahlen von Renten, welche auf psychische Ursachen zurückgehen, belegen dies deutlich.


Psychische Probleme normalisieren

Im Brennpunkt der Eingliederungsproblematik stehen heute also nicht mehr die Rollstuhlfahrer, sondern die vielen Personen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Wenn wir erfolgreiche Eingliederungsstrategien einführen wollen, müssen wir uns zuerst fragen, was hinter psychischen Problemen steckt. Wer hat nicht schon Kopfschmerzen gehabt? Wer war nicht schon einmal deswegen vorübergehend arbeitsunfähig? Weshalb kann eine Depression oder eine Angstattacke, die Antriebslosigkeit bewirken kann, nicht vorübergehen wie eine Grippe? Weshalb enden zu Beginn behandelbare psychische Störungen in chronischen Dauerzuständen? Auch der länger dauernde Beinbruch kann in der Regel mit hohem Erfolg behandelt werden und der Arbeitsplatz bleibt erhalten. Weshalb soll mit psychischen Problemen nicht ebenso erfolgreich umgegangen werden?
Einfache Antworten darauf gibt es nicht. Eine ist, dass die Nachbehandlung beim Beinbruch hoch professionell ist. Es gibt dort nach der professionellen Analyse und Hauptbehandlung eine Nachbehandlung, welche einerseits Physiotherapie und anderseits Krafttraining durch den Patienten erfordert. Bei psychischen Problemen dagegen gibt es keine solche institutionalisierte Nachbehandlung. Es gibt beispielsweise keine professionelle Begleitung an den Arbeitsplatz zurück, welche vergleichbar der Physiotherapie die ersten Gehversuche am Arbeitsplatz erlaubt. Auch die Invalidenversicherung kann diesbezüglich nichts bieten, weil sie bis heute nur Massnahmen zur Förderung der beruflichen Kompetenz fördern darf. Wenn der Arbeitswille resp. das «Können-Wollen» gesundheitsbedingt eingeschränkt sind, kann und darf sie bis heute keine adäquaten Eingliederungsmassnahmen bieten, weil dies invaliditätsfremd ist.


Sozialkompetenzen fördern

Das Parlament hat erkannt, dass die Invalidenversicherung für den grossen Personenkreis psychisch labiler Personen bis heute keine adäquate Eingliederungsunterstützung bieten kann. Es entschied in die Verstärkung der Eingliederung zu investieren. Eine Massnahme ist dabei die Früherkennung, um die Chronifizierung von gesundheitlichen Beschwerden zu verhindern. Das allein genügt aber nicht. Frühinterventions- und Integrationsmassnahmen sind notwendig. Diese geben die Möglichkeit, auch Massnahmen der Stärkung der Sozialkompetenz zu fördern. Die IV braucht den Handlungsspielraum, beispielsweise jüngere hochausgebildete Menschen, die wegen psychischer Labilität nicht selber erwerbstätig sein können, mit geeigneten Massnahmen (gezieltes Aufbautraining der sozio-beruflichen Kompetenzen) wieder an die Arbeit zurückzubringen. Eine andere Unterstützungsform ist das Job-Coaching für Arbeitnehmende mit psychischen Problemen. Job-Coaching ist ein Lösungsansatz, um den Stellenverlust und damit verbunden, hohe Folgekosten für Arbeitgebende und Pensionskasse zu vermeiden.


Zeit entscheidet über Erfolg

Das Bild der IV-Stelle bei den Arbeitgebenden hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Die auf Eingliederungsfragen spezialisierte IV-Arbeitsvermittlung hat viel zu dieser veränderten Wahrnehmung beigetragen. Sie spricht die Sprache der Wirtschaft und weiss, dass Arbeitsausfälle hohe Kosten verursachen.
Die IV-Arbeitsvermittlung stellt ihr Fachwissen Vorge-
setzten und Arbeitnehmenden zur Verfügung. Zielsetzung
der ArbeitsvermittlerInnen ist es, zusammen mit den Ar-
beitnehmenden, Perspektiven für die berufliche Zukunft zu
erarbeiten. Der Fokus liegt konsequent auf der ressourcen-orientierten Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Die IV-Arbeits-
vermittlung hat zwei grosse Aufgabenbereiche: Einerseits berät und begleitet sie Versicherte bei der Arbeitssuche, andererseits ist sie Anlaufstelle für Personalverantwortliche und Vorgesetzte bei Fragen zum betrieblichen Gesundheitsmanagement.


Absenzen sind ein Frühindikator

Bereits heute melden sich immer mehr Arbeitgebende auf freiwilliger Basis bei der IV-Arbeitsvermittlung. Der Entscheid, mit der IV-Stelle Kontakt aufzunehmen wird meistens gefällt, wenn sich die Absenzen von Mitarbeitenden häufen und die Arbeitsleistung nicht mehr den Erwartungen entspricht. Vorgesetzte schildern anonymisiert Mitarbeitergeschichten und wünschen eine Empfehlung zum Vorgehen im Unternehmen. Andere Vorgesetzte beschliessen, direkt zusammen mit dem Arbeitnehmer ein Beratungsgespräch mit einer IV-Arbeitsvermittlerin zu organisieren. Die Eingliederungsspezialisten der IV-Stelle sind für Arbeitnehmende und für Vorgesetzte Vertrauenspersonen. Sie ziehen am gleichen Strick. Im Interview mit der versicherten Person versucht die Arbeitsvermittlerin, die gesundheitlichen Schwierigkeiten zu erfassen. Das Gespräch ist auch der Rahmen, um die Möglichkeiten und Grenzen der Invalidenversicherung aufzuzeigen.


Krank und voller Selbstzweifel

Wichtige Partner in der Eingliederungsarbeit sind für die IV-Stelle Krankentaggeldversicherer, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe und öffentliche Berufsberatung. Die Krankentaggeldversicherer erkennen zusammen mit den Vorgesetzten zuerst, wenn Arbeitnehmende von der Ausgliederung aus dem Arbeitsmarkt bedroht sind. Die erfolgreichste Eingliederung ist aus Sicht der Invalidenversicherung die verhinderte Ausgliederung. Bereits eine zweimonatige Abwesenheit vom Arbeitsplatz genügt, und die Selbstzweifel setzen ein. Das Anliegen der IV-Arbeitsvermittlung ist deshalb, möglichst früh Eingliederungsmöglichkeiten prüfen zu können. Wer lange krank war, braucht erst wieder feste Strukturen. Ein befristetes Arbeitstraining oder ein Arbeitsversuch kann die Chance für den Wiedereinstieg sein. Die ArbeitsvermittlerInnen können bei der Suche nach geeigneten Trainingsplätzen auf die guten Beziehungen zu den Arbeitgebenden bauen. Andererseits können die Arbeitgeber darauf vertrauen, dass nur gut abgeklärte Mitarbeitende vermittelt werden.


Auf kreatives Potenzial bauen

Im Zentrum des Engagements der IV-Arbeitsvermittlung steht immer die erfolgreiche Eingliederung. Versicherte sollen bereits sehr früh in das Case Management der IV-Stelle integriert werden. Die Eigenverantwortung hört nicht mit der IV-Anmeldung auf, vielmehr ist das IV-Verfahren ein partnerschaftlicher Prozess. Die IV-Arbeitsvermittlung möchte das kreative Potenzial aktivieren und verhindern, dass Versicherte mit der IV-Anmeldung in eine Passivität fallen. Die Eingliederungsspezialisten werden aktiv, auch wenn noch nicht alle Arztberichte vorliegen. Zusammen mit der versicherten Person wird sofort geprüft, auf welche Ressourcen sie bauen kann. Im Zentrum des Interesses steht nicht die Frage: Was können Sie nicht mehr, sondern: Was ist notwendig, damit die versicherte Person wieder arbeiten kann.





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