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Disability Management - ein praxisnahes Konzept

Kaum jemand würde eine (Re-)Integration von behinderten und kranken Menschen in den Arbeitsprozess nicht befürworten. Aber wie soll dies geschehen? Das Disability Management stellt ein anwendbares Konzept zur Verfügung, welches von Unternehmen einfach übernommen werden kann.
Bea Müller, Psychologin SBAP

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/22

     

Eine schwere Verletzung oder Krankheit kann jeden Menschen treffen. Die betroffene Person scheidet aus dem Arbeitsleben aus und es beginnt ein langer, beschwerlicher Prozess der Rehabilitation, wobei die Wiederherstellung der physischen Funktionsfähigkeit im Vordergrund steht. Das arbeitgebende Unternehmen beschränkt sich dabei in der Regel auf die Anteilnahme in Form von guten Genesungswünschen und Blumen. Hier stellt sich die Frage, wie ein pro-aktives Engagement des Unternehmens die Reintegration von Mitarbeitenden in den Arbeitsprozess begünstigen, beziehungsweise einen völligen Verlust ihrer Arbeitsfähigkeit vermeiden kann.


Die Bedeutung der Arbeit - Psychologische Aspekte

Die Identität - die als ‚Selbst’ erlebte innere Einheit eines Menschen – und die Persönlichkeitsentwicklung sind stark mit der Arbeitstätigkeit verbunden. Denn der Mensch ist bestrebt, in einer Person-(Arbeits-)Umwelt-Übereinstimmung zu leben. Dazu braucht er Handlungsspielräume, welche ihm eine aktive Partizipation ermöglichen und damit letztlich die intrinsische Motivation erhöhen, sich bei der Arbeit einzusetzen. Eine Person, die sich ihrer Ressourcen und Kompetenzen sicher ist, kann auch in schwierigen Situationen etwas bewirken und deshalb mit Stresssituationen besser umgehen.
Der Verlust der Arbeitsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung bedeutet eine Einschränkung der Chancen, soziale Anerkennung und Wertschätzung zu erhalten, die Kontakt- und Interaktionsbedürfnisse zu befriedigen, sich weiterzuentwickeln und einen sinnvollen Beitrag an die Gesellschaft zu leisten. Dies wirkt sich als Stressor aus und hat zusammen mit dem Verlust von Sicherheit (gesichertes Einkommen, geregelte Zeitstruktur) einen starken negativen Einfluss auf die psychische Gesundheit von Arbeitnehmenden.


Die soziale Verantwortung der Unternehmen

Eine integrative, verantwortungsvolle Führungsethik manifestiert sich in Sachlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Effizienz, Glaubwürdigkeit, Fairness und Solidarität sowie in Loyalität und aktiv teilnehmender Mitgestaltung am Wohlergehen der Mitarbeitenden. Sie zeigt sich in den prägenden Faktoren der Unternehmenskultur:





- einem positiven Menschenbild, das konstruktive und motivierte Zusammenarbeit ermöglicht

- einer integrativen Grundeinstellung, die auf die Entwicklungsfähigkeit und Potenziale der Mitarbeitenden und auf partnerschaftliche Zusammenarbeit vertraut

- einer Ressourcenorientierung anstelle von Defizitkultur



Ein Unternehmen ist ein lebendiger Organismus und ein offenes System und steht immer in Wechselwirkung mit der umgebenden Umwelt. Entsprechend wirken Veränderungen, die in der Umwelt passieren, auch ins Unternehmen hinein und erfordern dort Reaktionen. Um Geschäftsprozesse unter Einbezug all dieser Faktoren effektiv und effizient vollziehen zu können, sind entsprechende Unterstützungsprozesse notwendig, die eine Entwicklung und Pflege tragfähiger Beziehungen zu internen und externen Anspruchsgruppen begünstigen. Ein Konzept, welches hilft, Prozesse der (Re-) Integration von behinderten und kranken Mitarbeitenden zu optimieren, bietet das Disability Management.


Disability Management: Everybody wins

Das Disability Management stellt einen kooperativen und standardisierten Ansatz zum Umgang mit kranken und behinderten Mitarbeitenden und deren Integration ins Unternehmen dar. Es wurde in Kanada vom deutschstämmigen Wolfgang Zimmermann entwickelt, der durch einen Unfall eine bleibende Behinderung erlitten hatte und dadurch persönlich erlebte, dass es den Unternehmen an Strategien zum Umgang mit behinderten Menschen und kranken Mitarbeitenden fehlte. Er gründete 1994 das National Institute of Disability Management and Research (NIDMAR), eine inzwischen international anerkannte Organisation, die sich zum Ziel gemacht hat, die menschlichen, sozialen und ökonomischen Aufwendungen und Belastungen durch Behinderungen zu reduzieren.
Im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen Strukturen, welche die sozialen und wirtschaftlichen Vorteile im Sinne einer win-win-Situation für alle Beteiligten deutlich machen: für die Unternehmen, die Versicherungen, diverse Leistungserbringer und für die Betroffenen selbst.


Ziel des Disability Managements

Das Disability Management zielt darauf ab, Menschen gesund und arbeitsfähig zu erhalten. In diesem Sinne greift es weiter als die allgemeine berufliche Rehabilitation, weil es sehr frühzeitig ansetzt und von Beginn an vom Unternehmen ausgehen muss. Es sichert und unterstützt die betroffene Person individuell und gezielt mit der Absicht, eine Rückkehr in dasselbe, nötigenfalls der Behinderung angepasste Arbeitsumfeld zu ermöglichen.
2001 hat die Internationale Arbeitsorganisation ILO (International Labour Organization) in ihrem Leitfaden ‚Code of practice on managing disability in the workplace’ eine Anleitung zum Disability Management mit den folgenden Zielsetzungen formuliert:


- Chancengleichheit am Arbeitsplatz für Menschen mit Behinderung


- Verbesserung der Beschäftigungsperspektiven

- Förderung von sicheren, zugänglichen und gesunden Arbeitsplätzen

- Minimierung der mit der Beschäftigung von Behinderten verbundenen Kosten

- Maximierung der Beiträge Behinderter zum Unternehmenserfolg



Dieser Leitfaden basiert auf der Erkenntnis, dass sich die Wiedereingliederung erfahrener Mitarbeitender für das Unternehmen rechnet und damit beträchtliche Einsparungen bei Krankheitskosten und Versicherungsleistungen erzielt werden.



Der ILO-Leitfaden richtet sich gleichermassen an


- Unternehmen unterschiedlicher Grösse

- Arbeitgeberorganisationen

- Arbeitnehmerorganisationen

- Institutionen des öffentlichen Sektors

- Menschen mit Behinderung

- Behindertenverbände

- Arbeitnehmende, welche die Bedeutung eines unterstützenden Arbeitsumfeldes erkennen



Im ILO-Leitfaden wird gefordert, das Management von Behinderung am Arbeitsplatz als prioritäre Aufgabe anzusehen, es in die Personalentwicklungsstrategie zu integrieren und aktiv zu kommunizieren. Denn bereits das Wissen, dass das Unternehmen an einer Rückkehr zur Arbeit und an einer weiteren Anstellung interessiert ist, kann für Betroffene eine enorme Entlastung und Motivation bedeuten.

Erfolgsfaktoren

Laut ILO gibt es verschiedene Wirkfaktoren, die zum Erfolg führen und allen Konzepten zum Disability Management gemeinsam sind. Einige der bedeutsamsten Faktoren sind:


- verstärkter Fokus auf die Gesundheitsförderung

- Früherkennung kombiniert mit Reintegrations-Programmen

- Aktivitäten zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess, die sinnvoll und lohnend wirken

- kreative und verbindende Ansätze im Erkennen eines individuellen Unterstützungsbedarfs

- Anpassung des Arbeitsplatzes für eine möglichst weit gehende Partizipation am Arbeitsleben

- eine von den Arbeitnehmenden und dem Management von Unternehmen gemeinsam getragene Reintegrationspolitik

- Schlüsselpersonen, die sich der Reintegration widmen


Umsetzung und Anwendung

Umsetzung und Anwendung
Eine Umsetzung des Disability Managements im Unternehmen setzt zunächst die Entscheidung der Unternehmensleitung voraus. Diese muss vom Nutzen des Konzepts überzeugt sein und sich für die Bereitstellung der benötigten Ressourcen entschliessen.
Idealerweise stellt das Unternehmen eine ausgebildete Person als Disability Manager zur Verfügung, die aufgrund eines Disability Management-Programms handelt. Hier kommen die folgenden Schlüsselprinzipien zum Zuge:



- Früherkennung und möglichst frühe Intervention


- Kontakt zu Betroffenen

- Kontakt zu internen und externen Stellen und Beteiligten

- Assessment zum Zwecke der Standortbestimmung, der Identifizierung von Stärken, Ressourcen und (Entwicklungs-)Potenzial

- Konzipierung, Durchführung, Dokumentation und Evaluation der Reintegrations-Strategien

- Vernetzung der internen und externen Stellen



Im Disability Management-Prozess hat die frühe Intervention – also eine möglichst kurze Zeitdauer von der Feststellung des Bedarfs bis zur Abklärung der Zuständigkeit und Realisierung - den grössten Einfluss auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung.

Schlussfolgerung

Es bleibt die Feststellung, dass es sich bei der Reintegration von Mitarbeitenden um ein äusserst komplexes Thema handelt, das in jedem Fall individuell angegangen werden muss. Das Thema wird vermehrt an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn es aufgrund demographischer Veränderungen für Unternehmen interessant wird, Ressourcen, Erfahrungen und Know-how von Mitarbeitenden längerfristig nutzen zu können. Dazu werden solche Konzepte benötigt, welche Chancengleichheit und das Verbleiben im Arbeitsprozess ermöglichen.
In der Schweiz ist das Disability Management noch relativ wenig bekannt. Es gewinnt aber auch hier zunehmend an Bedeutung, nicht zuletzt im Zuge der 5. IV-Revision, welche unter anderem eine Senkung der Anzahl IV-Neurenten um 20 % anstrebt. Die Hochschule für Soziale Arbeit HSA Luzern bietet bereits einen Studienlehrgang nach den Grundlagen von NIDMAR an, der Personen ansprechen soll, welche das Disability Management umsetzen und anwenden - z.B. Führungspersonen, Personal- und betriebliche Sozialverantwortliche.





Person-Arbeit-Übereinstimmung



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