Die Förderung der Reflexionsfähigkeit in Führungsausbildungen
Brigitte Andersen Stutz, dipl. Psychologin FH in Arbeits- und Organisationspsychologie, Uster
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/18
Die vor allem früher häufig geäusserte Forderung von Personalentwicklerinnen und Personalentwicklern, wonach eine Führungskraft den grössten Teil ihrer Arbeitszeit für die Mitarbeiterführung einsetzen sollte, ist spätestens seit der mehrfachen Restrukturierung von Unternehmen aller Branchen ein Ruf in die Wüste. Heute kann es sich eine Führungskraft kaum erlauben, viel Zeit für ihre Mitarbeitenden aufzuwenden. Dies wird sich auch in wirtschaftlich entspannteren Zeiten wenig ändern, da der Takt von technologischen Neuerungen immer schneller wird und durch die Konkurrenz am globalisierten Markt der Druck weiter erhöht wird. Eine erfolgreiche Führungskraft muss ihre Nase in den Wind halten, um zu beurteilen, welche Technologien für ihren Verantwortungsbereich in Zukunft von Bedeutung sein könnten. Sie muss Tagungen, Workshops und Seminare besuchen und entsprechende Fachliteratur lesen.
Zudem stehen laufende oder neue Projekte an und Managementaufgaben wie Budgetierungen, Kostenkontrollen, Verhandlungen mit Vertragspartnern müssen zusätzlich zum Tagesgeschäft erledigt werden. Neben all diesen Aufgaben bleibt gerade noch knapp Zeit, um die jährlichen Gespräche mit den Mitarbeitenden zu führen und anlässlich von regelmässigen Teamsitzungen einige Worte zwecks Mitarbeiter-Motivation oder positivem Teamgeist einfliessen zu lassen. Der Rest der Mitarbeiterführung beschränkt sich häufig auf das Reagieren, nämlich dann, wenn Konflikte im Team auftreten oder Mitarbeitende von sich aus mit ihren Anliegen bei den Führungskräften vorsprechen.
Im Einzelfall erscheint es verständlich, wenn der Besuch von Führungsausbildungen aufgrund wichtiger Termine verschoben wird, vor allem, wenn es sich dabei um Themen wie Kommunikation, Konflikte, Motivation, Umgang mit Stress und dergleichen handelt, welche vordergründig nicht unmittelbar einen Beitrag zum besseren Gelingen eines Projektes beitragen.
Betrachtet man Führungssituationen über einen längeren Zeitraum, so wird man feststellen, dass eine Führungskraft immer wieder mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat, ohne sich dessen bewusst zu sein. Häufig liegen diese Probleme im zwischenmenschlichen Bereich oder sind im eigenen Umgang mit Problemstellungen begründet. Das Scheitern eines Projektes oder jede Terminverzögerung hat letztlich ihren Ursprung in menschlichen Aspekten wie Kommunikation, Konflikten, Motivation, Fehleinschätzungen oder dem Umstand, aus früheren Fehlern nichts gelernt zu haben. Selbst wenn man glaubt, die Technik versage und deshalb ein Projekt scheitert oder der Lieferant nicht rechtzeitig liefert, liegt letztlich menschliches Unvermögen zugrunde, wenn nicht beim eigenen, so bei einem anderen Team.
Auch dann wenn alles nach Plan läuft, die Mitarbeitenden motiviert, zufrieden und bestens ausgebildet sind, mag es hie und da erstaunen, dass andere Teams oder andere Unternehmen erfolgreicher sind als das Eigene. Liegt es daran, dass diese die tüchtigeren Mitarbeitenden beschäftigen, höhere Gehälter bezahlen oder weniger unter Zeitdruck stehen? In den meisten Fällen trifft dies wohl kaum zu. Vielmehr sind die Mitarbeitenden dieser Teams oder Unternehmen von sich aus bereit, Extraleistungen zu erbringen, ihre Ideen einzubringen, diese mit anderen auszutauschen und so wiederum neue Ideen zu generieren, um die beste davon mit Herzblut und erfolgreich in die Realität umzusetzen.
"Wie erreicht man es, ein so motiviertes und erfolgreiches Team zu führen, wenn man eigentlich gar keine Zeit für Motivationsgespräche und dergleichen hat?", wird sich eine Führungskraft nun fragen. Die Antwort lautet: "Es ist Ihre Aufgabe, darüber nachzudenken, wie Ihr Team noch erfolgreicher werden kann! Es gibt keine allgemein gültigen Rezepte, Sie selber müssen Antworten finden und diese umsetzen. Das ist Ihre Verantwortung als Führungskraft, daran werden Sie gemessen."
Das Nachdenken oder genauer gesagt das Reflektieren über das Team ist gefragt. Dies impliziert ebenso, dass über sich selbst in der Rolle als Führungskraft nachgedacht wird, da das Verhalten anderer nur mit dem entsprechenden eigenen veränderten Verhalten beeinflusst werden kann.
Sie werden sich nun fragen, was Führungsausbildungen mit Reflexion zu tun haben. Denken Sie dabei an Situationen, in denen Sie krampfhaft nach der Lösung eines Problems suchten und dabei auf keinen grünen Zweig kamen. Erst als Sie sich etwas vom Problem lösten und eine gewisse Distanz einnahmen, kam Ihnen die zündende Idee, zum Beispiel beim Warten vor dem Kaffeeautomaten oder am nächsten Morgen auf der Fahrt zur Arbeit. Wie kommt das? Solange man sich am Problem festbeisst, findet man häufig keine Lösung, auch wenn man sich noch so anstrengt. Erst wenn man sich vom Problem distanziert, die Optik verändert und sich etwas entspannt, kann der zündende Funke überspringen.
Eine gewisse Distanz zum Führungsalltag und zu den einzelnen Führungssituationen kann dazu beitragen, dass schon aufgrund der neuen Optik aus der Ferne eine Lösung für ein Problem gesehen wird. Dieser Prozess kann zusätzlich in Gang gesetzt werden, wenn die Distanznahme zum Führungsalltag und die Reflexion darüber gezielt durchgeführt wird. Die gezielte Reflexion (das Nachdenken über Führungssituationen und das Team) und die gezielte Selbstreflexion (das Nachdenken über die eigene Führungsrolle und über das eigene Verhalten) kann in Coachings oder in Führungsausbildungen erfolgen. In beiden Fällen wird in Form von Fremdwahrnehmungen, neuem Wissen, einer anderen Optik und Ähnlichem ein Input von aussen gegeben.
Während bei einem Coaching in der Regel ganz konkrete Problemstellungen einer bestimmten Person bearbeitet werden, sind Führungsausbildungen allgemeiner gehalten. Neben konkretem Theorieinput zu verschiedenen Themen wie Mitarbeitermotivation, Konflikten, Kommunikation, Führungsstilen, Zielvereinbarungen werden mit Beispielen und häufig in Gruppengesprächen auf verschiedene Führungssituationen der Teilnehmenden eingegangen. Genau darin liegt eine Chance. Wie bereits weiter oben beschrieben, sind sich Führungskräfte häufig gar nicht bewusst, dass sich ihre Problemstellungen immer wieder ähneln und ihr Umgang damit oft in einem sich wiederholenden Muster abläuft. Erst im Vergleich mit ähnlichen Problemstellungen anderer Führungskräfte oder durch Rückmeldungen auf ihre Problemstellungen, wird ihnen bewusst, dass sie in konkreten Situationen auch anders, besser handeln könnten.
Darüber hinaus, ist das Training der (Selbst-)Reflexionsfähigkeit angesichts steigender Anforderungen an Führungskräfte eine zunehmende Notwendigkeit. Ein rasanter Technologiewandel, eine laufende Zunahme von Geschäftstätigkeiten im Ausland, ein anhaltender wirtschaftlicher Druck, welcher zu Restrukturierungen und Leistungssteigerungen führt, erhöht die Komplexität der Führungssituationen. Hinzu kommen die allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen, wie zum Beispiel ein Wertewandel, der sich auch in den Führungssituationen niederschlägt. Die Führungssituationen stellen folglich immer höhere Anforderungen an die Sozial- und Selbstkompetenz von Führungskräften.
Da viele Führungssituationen, auf die eine Führungskraft im Laufe ihrer Tätigkeit stossen wird, im Voraus nicht bekannt sind und demnach als solche in Führungsausbildungen nicht simuliert und trainiert werden können, ist es der Umgang mit neuen, unbekannten Situationen, der gelernt werden muss. Dazu müssen Führungskräfte in der Lage sein, Konzepte, Strategien und Handlungen zu hinterfragen, zu kritisieren, zu begründen und deren Folgen abzuschätzen. Ebenso sind sie gefordert, die eigenen Anteile und Interpretationen im Umgang mit anderen zu erkennen und zu hinterfragen. Eine solche Reflexionsfähigkeit kann einerseits in Führungsausbildungen gezielt gefördert werden, anderseits ist jede Führungskraft gefordert, über die eigene Führungsrolle und ihr Team nachzudenken. In Führungsausbildungen kann sie dies im Austausch mit anderen Führungskräften und den Führungstrainern in besonderem Masse effizient gestalten.