IT Realities: Ob massgeschneidert oder von der Stange bestimmt der Chef
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2000/37
Das Dilemma zwischen kostengünstigen Standardlösungen und aufwendiger Individualsoftware wurde mir wieder einmal bewusst, als ich mich in Zürich-Kloten eben für einen Flug nach London angegurtet hatte.
Der kräftige Mann mit dem St. Galler Dialekt, der neben mir sass, stellte sich zwar nicht mit Namen vor, aber aus dem Gespräch ergab sich, dass er ein stark spezialisiertes Fabrikationsunternehmen leitet und eben eine schlechte Erfahrung gemacht hatte. Eine neue Software zur Bestellungsabwicklung, die von der IT-Abteilung nach langer Evaluation beschafft worden war, erwies sich als gar nicht imstande, die bestehenden Marktleistungen des Unternehmens vollständig wiederzugeben - entgegen allen Beteuerungen des Verkäufers. "Wir hätten besser eine Individualsoftware entwickelt", fasste der Mann zusammen, als ich mich nach der Passkontrolle von ihm trennte. Und erst, als er in Richtung U-Bahn davonging, bemerkte ich, dass auch sein Anzug an den Schultern nicht so richtig sass.
Ein amüsanter Zufall? Keineswegs. Das Dilemma zwischen den Möglichkeiten, teure Lösungen massschneidern zu lassen ("Make") oder kostengünstige Produkte von der Stange zu kaufen ("Buy"), existiert nicht nur in der Informatik, sondern auch in unzähligen anderen Gebieten.
Selbst programmierte Lösungen sind seit jeher komfortabler als Standardprodukte. In der Unternehmensinformatik passen sich Individuallösungen detailgetreu den Kernprozessen an, in denen sich oft jahrzehntelange Erfahrung spiegelt. Und damit lassen sich die Alleinstellungsmerkmale des Unternehmens richtig zum Ausdruck bringen.
Wie die Massschneiderei braucht aber auch die Software-Entwicklung Zeit - während gekaufte Produkte sofort einsatzfähig sind. Und zusätzlich besteht beim "Make" ein Herstellungsrisiko: Erst wenn die Arbeit schon fortgeschritten ist, kann sich herausstellen, dass die einzelnen Zielvorstellungen, die bei der Bestellung formuliert wurden, gegenseitig in Konflikt geraten. Oder dass die Grundannahmen bereits veraltet sind, wenn der Ablieferungstermin näher rückt.
Ist also bei der dramatisch schwindenden Gesamtlebensdauer von Informatiksystemen Standardsoftware vorzuziehen? War die Geschichte, die ich im Flugzeug hörte, ein krasser Einzelfall? Die Entwicklung der letzten Jahre hat in der Tat Standardlösungen begünstigt. Rasch einsatzbereite Fertigapplikationen kommen dem schwindenden Spielraum bei der Einführung neuer Produkte entgegen (Time to Market). Und zusätzlich verfügt die Software von der Stange über einen wachsenden Funktionsumfang - für viele Aufgaben, die früher Individualsoftware verlangten, bestehen heute Standardpakete.
Eine generelle Antwort auf die Frage "Make or Buy?" ist aber nicht möglich. Zu viel hängt vom Zweck einer Software und von den jeweiligen Rahmenbedingungen eines Unternehmens ab. Finanzbuchhaltungen und andere alltägliche Aufgaben können zwar getrost mit Standardprodukten erledigt werden. Vor allem das wachsende E-Business stellt jedoch andere Anforderungen. Das global gewordene Angebot hat das Bedürfnis geschaffen, sich am Markt klar von der Konkurrenz abzusetzen - ein klares wichtiges Argument für "Make". Insbesondere die Anbieter von Dienstleistungen, vor allem Versicherungen und Banken, setzen deshalb nach wie vor stark auf Eigenentwicklungen.
Selbst wenn in komplexen Systemen in grossem Umfang Standardapplikationen zum Tragen kommen, bleibt bei der Gesamtarchitektur immer ein "Make"-Element bestehen: Bei der Vernetzung der einzelnen Applikation durch Frameworks ist es immer wichtig, den individuellen Notwendigkeiten eines Unternehmens bis ins Detail Rechnung zu tragen.
Die Fehlertoleranzen schrumpfen an allen Märkten. Und damit wächst die Notwendigkeit, Entscheide rasch und sicher zu fällen. Vor allem auch in der Informatik. An welcher Stelle im Dreieck von Kosten, Individualität und Time to Market der Schwerpunkt gesetzt werden soll, kann nur an der Unternehmensspitze festlegt werden, nicht in der Informatikabteilung. Viel bunte Individualität oder viel nüchterne Kosteneffizienz? Was Not tut, muss der Chef bestimmen!