Entscheide fällen nach Potential


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2008/10

     

Entscheidungen zu fällen war noch nie eine einfache Sache. In den verschiedenen Epochen der Menschheit machte man sich deshalb teils phantasievolle, teils abenteuerlich anmutende Praktiken zunutze, um Entscheidungen abzusichern. Nehmen wir beispielsweise das Orakel von Delphi: Ob Krankheit, Feldzug oder politische Reformen – in Delphi fand jeder Rat. Der Tempel von Delphi war in der Antike berühmt für seine Prophezeiungen. Allerdings waren diese oft schwer verständlich und gespickt mit Doppelsinnigkeiten. Dennoch trafen sie immer auf irgendeine Art und Weise zu. So auch, als der mächtige lydische König Croisos (oder Krösus) das Orakel um Rat ersuchte, um sich zu vergewissern, ob er das aufstrebende Nachbarreich der Perser attackieren sollte. «Wenn du den Grenzfluss Halys überschreitest, wirst du ein grosses Reich zerstören», wurde ihm vom Orakel vorausgesagt. Das traf dann auch tatsächlich zu – dumm nur, dass das zerstörte Reich ausgerechnet sein eigenes war.



IT-Manager sind heute besonders gefordert, derartige Fehlentscheidungen auszuschliessen. Schliesslich ist die IT eine Service-Funktion und darf deshalb nicht Ressourcen in den Sand setzen, die in der Wertschöpfungskette dringend benötigt werden. Ohnehin ist das IT-Budget zu knapp ausgelegt, als dass man damit Fehlschläge kompensieren kann, ohne andere Zöpfe abzuschneiden. Glücklicherweise schneiden im Vergleich mit der Antike die aktuellen und rational ausgelegten Methoden zur Entscheidungsfindung gut ab. So können IT‑Manager auf Investitionsrechnungen und den daraus ermittelten Kennzahlen wie ROI, IRR und NPV (Return on Investment, Internal Rate of Return, Net Present Value) setzen.




Schwierigkeiten bereitet aber immer noch – genauso wie in der Antike – die Deutung der Antworten (d.h. die Interpretation der Kennzahlen). So ist beispielsweise ein ROI von 40 Prozent besser als ein ROI von 150 Prozent – falls erstgenannter auf den durchschnittlichen Zahlungseingängen (quantifizierter Nutzen) und letztgenannter auf den kumulierten Zahlungseingängen beruht. Doch diese Unzulänglichkeit beim ROI ist genaugenommen nur ein Nebenschauplatz. Ganz abgesehen davon, dass der ROI als Universalwaffe herhalten muss und deshalb immer mehr zur nichtssagenden Grösse abtriftet. So nutzt man den ROI gerne auch mal anstelle der Amortisationsdauer (Break-Even/Payback) und spricht dann unglücklicherweise von «einem ROI in drei Jahren».



Die Berechnung des «Value at Stake»


Die Wertgenerierung der IT darlegen

Kommen wir zurück zum Hauptschauplatz und blicken aus Sicht der Unternehmensführung auf die Informatik. Von dieser Seite wird immer vehementer gefordert, den Wert, welchen die Informatik zum Geschäftsergebnis beisteuert, in greifbarer Form darzulegen. Schliesslich können erst dadurch die Potentiale der IT für die Geschäftsentwicklung richtig eingeschätzt werden. Diese Forderung der Geschäftsleitung geht einher mit der Tendenz, unternehmerische Entscheidungen grundsätzlich mit einem Wertbeitrag zu hinterlegen. Wie kann man als gestandener IT-Manager diesem Aufruf nachkommen?



Die qualitativen Hinweise auf die Errungenschaften der Informationstechnologie, wie etwa «integrierte Information», «schnellere Verfügbarkeit», «höhere Automatisierung», «stärkere Integration», «einheitliche Architektur», «erhöhte Transparenz», «weniger Medienbrüche» etc., ziehen nicht mehr. Man kann deshalb in Versuchung kommen und das Orakel von Delphi anrufen: «Grosses Orakel. Wie lässt sich der Wert darlegen, den die Informatik für unser Unternehmen generiert?»




«Die Antwort liegt doch so nah», spricht das Orakel. Schon wieder diese verschlüsselten Auskünfte. Nun gut, wenigstens vermeiden wir damit, blindlings auf irgendwelche willkürlichen Eingebungen einer höheren Gewalt zu vertrauen und aufs falsche Pferd zu setzen. Wieso auch soll man in die Ferne schweifen, wenn eine Lösung in greifbarer Nähe ist?



Die Informatik kann doch durchaus auf die gleichen Wertmassstäbe zurückgreifen, mit denen die Steigerung des Unternehmenswerts gemessen wird. Prominentester Vertreter ist hierbei der sogenannte «Economic Profit» – im deutschsprachigen Raum auch bekannt als der Residualgewinn. Er basiert auf der Erkenntnis, dass wenn die Buchhaltungsabteilung bei einem Kapitaleinsatz von 1 Mio. Geldeinheiten, am Ende des Geschäftsjahres einen daraus resultierenden «Gewinn» in Höhe von 75’000 Geldeinheiten verbucht, nicht zwingend eine Wertsteigerung (ein «Mehrwert») erzielt wurde. Erwarten beispielsweise die Kapitalgeber eine Kapitalverzinsung von
10 Prozent (weil sie diese Rendite auch bei einem alternativen Kapitaleinsatz mit vergleichbarem Risiko erhalten würden), so wäre nur der über 100’000 Geldeinheiten hinausgehende Betrag wertsteigernd. Aus diesem Grund spricht man auch vom «Übergewinn».



Economic Profit vs. Economic Costs


Periodenbezogener und-übergreifender Wertbeitrag

Berechnet wird der «Economic Profit» als Periodengrösse, auf der Basis eines Geschäftsjahres und als Erweiterung zur konventionellen Gewinn- und Verlustrechnung (Erfolgsrechnung). Wobei die Berechnung in Anlehnung an die klassische Investitionsrechnung aus der spezifischen Sicht eines IT-Projekts, einer IT-Investition oder einer beliebigen IT-Massnahme durchgeführt werden kann. Der Economic Profit kann also isoliert für ein einzelnes Projekt ermittelt werden. Grundlage sind dann die Zahlungsströme des Projektes (Projektkosten, etwaige zusätzliche Betriebskosten und der quantifizierbare Nutzen). Zugute kommt diesem Verfahren, dass insbesondere in den vergangenen Jahren wichtige Fortschritte hinsichtlich der finanziellen Bewertung von IT‑generiertem Geschäftsnutzen erzielt wurden.




Entsprechend dem einer Wirtschaftlichkeitsanalyse zugrunde gelegten Betrachtungszeitraum, wird für jedes Jahr der «Economic Profit» ermittelt. Bleibt zu klären, wie diese Periodengrössen verschiedener Jahre zu einer Kennzahl verdichtet werden, um mehrere Projekte miteinander vergleichen zu können? Dies geschieht, indem man die «Economic Profit»-Werte der einzelnen Geschäftsjahre auf den Analysebeginn abzinst (Diskontierung auf das Jahr 0). Als Diskontierungssatz nutzt man sinnvollerweise die gewichteten Kapitalkosten (WACC; Weighted Average Cost of Capital) – also einen Mischzinssatz für die Kosten des Eigenkapitals und des Fremdkapitals. Anschliessend werden die diskontierten «Economic-Profit»-Werte kumuliert, woraus der sogenannte «Value at Stake» (VaS) resultiert.


Die Stärken der Wertorientierung

«Warum eigentlich?», ist man geneigt zu fragen. Mit Recht, denn die Unterschiede zwischen dem neuen wertorientierten VaS-Konzept und der traditionellen NPV-Rechnung sind nicht auf Anhieb erkennbar. Schliesslich handelt es sich bei beiden Kennzahlen (VaS und NPV) um eine absolute Grösse – die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit wird in Geldeinheiten ausgedrückt. Wieso soll man nun auf die VaS-Methode umschwenken? Welche Vorteile sind damit verbunden? Im wesentlichen sind hier drei Aspekte anzuführen:



- Schlüssige Projektvergleiche: VaS würdigt die Kapitalbindung («investiertes Kapital» – typischerweise im Sachanlagevermögen) und ermöglicht dadurch einen korrekten Vergleich von IT-gestützten Projekten mit hoher Kapitalbindung (z.B. Produktion& Distribution; IT-Infrastruktur) und IT-gestützten Projekten mit vergleichsweise geringer Kapitalbindung (z.B. Sales&Marketing).




- Durchgängige Wertaussagen: VaS liefert für jede Periode (Geschäftsjahr) einen Wertindikator (eben den «Economic Profit»), welcher gleichzeitig in einer periodenübergreifenden Vergleichskennzahl aufgeht (dem VaS). Die Periodengrösse ist «kompatibel» mit den Strukturen der klassischen Rechnungslegung, welche für die Veröffentlichung der Unternehmensergebnisse genutzt werden und deshalb sowohl für die Finanzabteilung als auch für die Geschäftsleitung verständlich, aussagekräftig und vor allem auch relevant sind.



- Nähe zu Anreizsystemen: VaS steht in direkter Verbindung mit einem möglichen Bonussystem für die obere und mittlere Führungs­ebene (bzw. auch für die Leistungsträgerebene). Von Vorteil ist hierbei, dass der Economic Profit sowohl für ein Unternehmen als Ganzes als auch für einzelne Geschäftsbereiche berechnet werden kann. Auch ist eine periodenbezogene 1:1-Beziehung zwischen Projektresultat, Unternehmensresultat und Bonusberechnung realisierbar, was gleichzeitig die Relevanz eines Bonuskonzepts erhöht.



Die Bedeutung der wertorientierten Wirtschaftlichkeitsanalyse wird zusätzlich gestärkt durch Umwälzungen in der Geschäfts­berichtspublizität. In den vergangenen Jahren haben Unternehmen ihre Bemühungen hinsichtlich eines «Value Reporting» intensiviert und gehen zunehmend dazu über, Value-Angaben in ihre Geschäftsberichte zu integrieren. Um dies zu ermöglichen, müssen Unternehmen die notwendigen innerbetrieblichen Voraussetzungen schaffen und insbesondere eine Wertausrichtung bei Projektentscheidungen auf breiter Basis vorantreiben und nachhaltig verankern. Damit wird einer der zwei Bausteine adressiert, welche für eine potentialorientierte Entscheidungsfindung stehen.


Neue Wege in der Entscheidungsvorbereitung

Ökonomische Überlegungen hin oder her – Entscheidungen zu treffen ist und bleibt ein fundamentaler Akt mit beachtlichen Konsequenzen, denn letzten Endes wird der Unternehmenserfolg bestimmt durch die Summe der im Unternehmen getroffenen Entscheidungen. Die Qualität der Entscheidungen legt fest, wer mit mehr Erfolg – oder eben weniger Erfolg – am Wirtschaftsgeschehen partizipiert. Es überrascht deshalb nicht, wenn Unternehmen immer häufiger von willkürlichen Entscheidungswegen Abstand nehmen und die Entscheidungsvorbereitung auf eine professionelle Basis stellen. Eine systematische Herangehensweise an Entscheidungen wird auch der Komplexität heutiger Entscheidungssituationen besser gerecht.



Die Basis für einen formalisierten Entscheidungsprozess bildet in der Regel ein bewährtes Raster, welches im Rahmen eines Fine-Tuning auf die spezifische Unternehmenssituation zugeschnitten wird. Die Vorbereitung von Entscheidungen wird dabei methodisch aufgearbeitet und in einzelne, sequentiell abzuarbeitende Teilschritte untergliedert. Für jeden dieser Teilschritte werden in einem unternehmenseigenen Entscheidungsleitfaden die Inhalte detailliert beleuchtet und mitsamt Vorlagen und Beispielen ausführlich dokumentiert.




Ein auf diese Weise formalisierter und verbindlich im Unternehmen eingeführter Entscheidungsprozess steigert die Entscheidungskompetenz aller Beteiligten, ermöglicht folglich Entscheidungen auf einem höheren Qualitätsniveau und verbessert schlussendlich die Erfolgsaussichten des Unternehmens insgesamt.



Mit der Implementierung dieses zweiten Bausteins hat man die Idee der potentialorientierten Entscheidungsfindung umgesetzt und ist bestens präpariert für die zukünftigen Herausforderungen des Wettbewerbs. Die Devise ist klar: objektive, durchdachte und treffsichere Entscheidungen. Diffuse Weissagungen von mys­tischen Quellen gehören nun endgültig der Vergangenheit an. Beim «Orakeln» gibt es ohnehin nur einen sicheren Gewinner. Ein Orakel ist ja nicht von gestern und weiss: der Erfolg seiner Prophe­zeiung steht und fällt mit ihrem Eintreffen. Es wird also Voraussagen für die Zukunft so gestalten, dass es am Ende in jedem Fall gut dasteht. Wenn die Sache – wie etwa im Falle des Croisos – so oder so ausgehen kann, bleibt das Orakel einfach vage. Den Denkfehler begeht dann der «Anwender».


Uralte Idee: der Übergewinn

Die Idee der wertorientierten Unternehmensführung lässt sich bis ins 1. Jh. n. Chr. zurückverfolgen. Der römische Bürger Lucius Junius Moderatus Columella beschreibt in seinem Hauptwerk «De ru rustica» (Zwölf Bücher) den Shareholder-Value-Gedanken in vorbildlicher Klarheit: «Bevor ich nun über das Anpflanzen von Reben schreibe, ist es angebracht zu ermitteln, ob der Weinbau den Besitzer bereichert. Denn es ist überflüssig, Anleitungen für den Weinbau zu geben, wenn diese Frage nicht bejaht ist … Die Investitionen ergeben zusammen 32’480 Sesterzen. … Wenn nun der Bauer seinen Weinpflanzungen eine Schuldrechnung aufmacht, wie ein Gläubiger seinem Schuldner, indem er auf dieses Kapital eine ewige Rente von 6 Prozent verlangt, dann müsste er jedes Jahr 1950 Sesterzen einnehmen … Selbst wenn es sich um Weinpflanzungen minderwertiger Qualität handelt…, so macht der Ertrag immerhin 2100 Sesterzen aus; dieser Ertrag übersteigt sonach einen Zins von 6 Prozent.»




Die Ausführungen Columellas zeigen deutlich, auf welchen Grössen die Performance-Messung beruhen sollte. Ein wertorientiertes Controlling nach Columella würde so aussehen: Man würde sich nicht damit begnügen, den Gewinn (2100 Sesterzen) zu ermitteln. Vielmehr muss der Gewinn mit den Kapitalkosten in Höhe von 6 Prozent (Mindestrendite; hurdle rate) auf das investierte Kapital verglichen werden. Erst die Differenz zeigt, ob der «Weinbau den Besitzer bereichert» – ob ein Shareholder Value erzielt wurde. Diesen Differenzbetrag bezeichnet man auch als Übergewinn oder Economic Profit.


Der Entscheidungsprozess

In verkürzter Form dargestellt, kann ein schematischer Entscheidungsprozess wie folgt aufgebaut sein:



1. Fakten: Faktenlage zusammenstellen – Fakten erheben, Problem definieren, Abgrenzung festlegen (= Scope definieren).


2. Erkenntnisse: Einsichten aus der Faktenlage gewinnen und festhalten.


3. Handlungsalternativen: Lösungen ausarbeiten und festlegen, welche Lösungen in einem nächsten Schritt detaillierter untersucht werden sollen.


4. Beurteilung: Alternativen anhand robuster Prognosen hinsichtlich ihrer Auswirkungen bewerten (z.B. hinsichtlich des Wertpotentials – Stichwort: Value Creation). Eine Entscheidung herbeiführen.


5. Ausführungsalternativen: Die verschiedenen Möglichkeiten der Implementierung ausloten und konkretisieren. Eine Entscheidung herbeiführen.


6. Planung: Umsetzungsplan ausarbeiten, Ressourcenbedarf präzisieren, Ziele vereinbaren.


Der Kurs zum Buch

Der Veranstalter «The Knowledge Place» führt am 3. und 4. Juni in
Zürich den Fachkurs «Der IT Business Case» mit Ralph Brugger
durch. Detaillierte Infos und Anmeldung unter www.knowledgeplace.ch.


Der Autor

Ralph Brugger ist Dipl. Wirt-
schaftsinformatiker und Autor des im Springer-Verlag erschienenen Bestseller-Fachbuches «Der IT Business Case».




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