Mit Agenten zu neuen Anwendungen

Die Agenten-Technologie hat einen Stand erreicht, der sie neuerdings auch für industrielle und kommerzielle Anwendungen attraktiv macht.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/11

     

Ende Juli ist es wieder soweit: Nach drei erfolgreichen Konferenzen in Bologna, Melbourne und New York werden sich rund 1000 Vertreter privater und öffentlicher Forschungsinstitutionen und von Unternehmungen zur «Fourth International Joint Conference on Autonomous Agents and Multiagent Systems (AAMAS05)» im holländischen Utrecht einfinden. Während fünf Tagen werden sie über die neuesten Erkenntnisse der Agenten-Forschung diskutieren und im Rahmen des erstmals zur Durchführung gelangenden «Industrial Track» über praktische Erfahrungen bei der Anwendung der Technologie im Rahmen industrieller und kommerzieller Projekte berichten.






Nicht zuletzt dank der aktiven Forschungspolitik der Europäischen Union, die der Agenten-Technologie im Kontext ihrer jüngsten IST-Rahmenprogramme (Information Society Technologies) einen hohen Stellenwert eingeräumt hat, haben europäische Universitäten und Unternehmungen in den vergangenen Jahren wesentliche Beiträge zur Agenten-Forschung geleistet. Zu diesen Unternehmen gehört auch die von den beiden Autoren 1999 gegründete Whitestein Technologies, welche sich seit ihrem Bestehen nicht nur in diversen europäischen und globalen Koordinations- und Standardisierungsgremien sowie EU-Forschungsprojekten engagiert, sondern sich auch zu einem führenden europäischen Anbieter Agenten-basierter Technologien, Produkte und Services entwickelt hat.


Eine Vision wird Realität

Wie so häufig im Falle neuer technologischer Entwicklungen stand am Anfang eine Vision – die Vision sich selbstorganisierender, selbstoptimierender, hochflexibler und entsprechend adaptiver Informations- und Anwendungssysteme, die sich ohne menschliche Intervention, gleichsam «autonom» den sich dynamisch ändernden Umweltbedingungen anpassen können.





Was noch vor wenigen Jahren für viele geradezu utopisch klang, ist zwischenzeitlich Realität geworden. Ihre erste ernsthafte und bis dato wohl spektakulärste Bewährungsprobe hat die Agenten-Technologie im Weltall erfahren. Ohne den Einsatz eines Agenten-basierten, autonomen Softwaresystems, des sogenanntenn Autonomous Remote Agent, wäre die von der NASA in den späten neunziger Jahren gestartete «Deep Space One»-Mission (DS-1) wohl kaum möglich gewesen. Ganz einfach deswegen, weil die bis anhin praktizierte Ground Control, unter anderem infolge allzu langer Übertragungszeiten der Signale, schlichtweg nicht mehr funktioniert. Dies gilt übrigens auch für zwei andere NASA-Projekte: die beiden Mars Rover und das Huygens-Experiment auf dem Saturn-Mond Titan.


Wesen und Merkmale

Zum besseren Verständnis der grundlegenden Konzepte und Eigenheiten der Agenten-Technologie stellen wir im Folgenden diese dem traditionellen Objekt-orientierten Ansatz gegenüber.
Im Falle des Objekt-orientierten Ansatzes werden die Struktur und das zukünftige Verhalten eines Anwendungssystems bekanntlich bereits weitgehend zum Design-Zeitpunkt bestimmt. Basierend auf den im Zuge umfassender Analysen gewonnenen Informationen definiert der Software-Ingenieur zum Design-Zeitpunkt die wesentlichen Regeln und Prozesse und damit zwangsläufig das zukünftige Verhalten des zu entwickelnden Anwendungssystems (Design-Time-Defined System Behavior). Dieser Ansatz ist dann zielführend, wenn der Ingenieur zum Design-Zeitpunkt bereits über mehr oder minder vollständige und präzise Informationen über die zukünftigen Umweltbedingungen und das durch diese letztlich determinierte zukünftige Verhalten des zu entwickelnden Anwendungssystems verfügt. In all jenen Fällen, in denen diese Voraussetzung – beispielsweise aufgrund unvorhersehbarer Umweltereignisse – nicht gegeben ist, besteht jedoch die Gefahr eines suboptimalen Systemverhaltens oder gar eines Systemabsturzes.





Charakteristisch für den Agenten-orientierten Ansatz dagegen ist, dass das Systemverhalten nicht bereits zum Design-Zeitpunkt, sondern erst zum Zeitpunkt der Programmausführung durch entsprechende Agenteninteraktion dynamisch festgelegt wird (Run-Time-Determined System Behavior). Zum Design-Zeitpunkt hat der Software-Entwickler lediglich den «Handlungsspielraum» (Zielsetzungen, Rollen, Rahmenbedingungen) für die spätere Agenteninteraktion festzulegen. Dieses Charakteristikum ist insofern von Bedeutung, als es zu einem wesentlichen Teil die besondere Flexibilität und Adaptionsfähigkeit Agenten-basierter Anwendungssysteme begründet. Ein konkretes Anwendungsbeispiel aus dem Bereich der Transportlogistik verdeutlicht dies.





Die Living Technologie Suite im Überblick


Anwendungsbeispiel Transportlogistik

Im Transportwesen erweist sich eine möglichst optimale Auslastung der verfügbaren Ressourcen als einer der wichtigsten strategischen Erfolgsfaktoren. Jüngste Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass die zu diesem Zwecke in zahlreichen Transportunternehmen zum Einsatz gelangenden Optimierungssysteme nur bedingt geeignet sind, der zunehmenden Komplexität und Dynamik eines zusehends globalisierten Transportwesens Rechnung zu tragen. Während es diese Systeme ermöglichen, mittels bewährter analytischer Algorithmen optimale Pläne für wohlstrukturierte, statische Problemstellungen zu errechnen, versagen sie jedoch regelmässig in dynamischen oder gar turbulenten Umgebungen, in denen Pläne in «Echtzeit» neuen, unvorhergesehenen Gegebenheiten (zum Beispiel neue oder kurzfristig geänderte Transportaufträge, Ausfälle von Transportkapazitäten, Verkehrsstaus) angepasst werden müssen. In diesen Fällen muss die erforderliche Planrevision beziehungsweise das entsprechende Event-Management nach wie vor weitgehend manuell von den zuständigen Disponenten wahrgenommen werden – eine Sisyphusarbeit.





Mit dem Ziel, die Disponenten bei der Bewältigung ihrer Aufgaben umfassend zu unterstützen und gleichzeitig die Transportkosten durch einen optimalen Ressourceneinsatz signifikant zu senken, hat Whitestein Technologies in Zusammenarbeit mit einem weltweit tätigen Logistikunternehmen das Multi-Agenten-System LS/ATN (Living Systems Adaptive Transportation Networks) entwickelt. Im Gegensatz zu den traditionellen Transport-Optimierungssystemen präsentiert sich LS/ATN als verteiltes System autonomer, miteinander kooperierender Software-Agenten. Im Extremfall wird jeder Truck und jeder Transportauftrag durch einen entsprechend spezialisierten Agenten repräsentiert. Kernkomponente des Systems ist eine Optimierungs-Engine, welche auf dynamische Weise eine stets optimale Allokation der verfügbaren Ressourcen gewährleistet, indem das System stets unmittelbar nach einem Ereignis wieder Richtung Optimum strebt.
Erste Praxistests haben die positiven Ergebnisse von vorgängig mit Echtdaten durchgeführten, umfangreichen Simulationen bestätigt. Diese haben ergeben, dass LS/ATN nicht nur zu einer signifikanten Reduktion der Transportkosten bei gleichzeitiger Verbesserung der Service Levels beitragen kann, sondern auch eine beachtliche Effizienzsteigerung bei den letztlich verantwortlichen Disponenten ermöglicht.


Voraussetzungen

Die derzeitige Situation der Agenten-Technologie ist vergleichbar mit jener der Objekt-orientierten Technologien Anfang der neunziger Jahre. Damals standen die Objekt-orientierten Technologien im Mittelpunkt des Interesses der Forschung, ohne jedoch bereits eine grössere Verbreitung in der betrieblichen Praxis zu finden. Den eigentlichen Praxis-Durchbruch schaffte der Objekt-orientierte Ansatz erst, nachdem robuste, industrietaugliche, auf der Java-System-Architektur basierte Plattformen und entsprechende Entwicklungswerkzeuge verfügbar waren und ausserdem die für eine systematische und effiziente Anwendungsentwicklung unerlässlichen Methoden zur Verfügung standen.






Wenngleich zwischenzeitlich eine Vielzahl von Agenten-Plattformen publik gemacht geworden sind, sind die meisten von ihnen Resultat themenspezifisch konzipierter Forschungsprojekte. Sie vermögen darum hinsichtlich Praxistauglichkeit (Robustheit, Skalierbarkeit, Performanz, Integrationsfähigkeit etc.) nicht oder nur bedingt zu genügen. Viele sind ausserdem – wenn überhaupt – mit recht rudimentären Entwicklungs-, Deployment- und Administrationstools ausgerüstet. Als wenig zufriedenstellend erweist sich zur Zeit auch noch der Entwicklungsstand im Bereich Agenten-orientierter Methoden. Trotz einiger vielversprechender Ansätze fehlt es noch an einer umfassenden, wohldefinierten, praxiserprobten Agenten-Methodologie samt zugehöriger Agenten-orientierter Modellierungssprache und entsprechender Tools.


Umfassende Middleware

Im Bestreben, über eine robuste, skalierbare, auf den geltenden Industrie-Standards basierte
und damit leicht integrierbare Agenten-Plattform als Basis für die Entwicklung eigener, vertikaler Agenten-basierter Anwendungen zu verfügen, hat Whitestein Technologies die Living Systems Technology Suite (LS/TS) entwickelt – eine umfassende Agenten-Middleware. LS/TS beinhaltet neben einer sowohl für J2EE- als auch für J2SE-Umgebungen konzipierten «Run-time Suite» mit entsprechenden Administrationstools zusätzlich eine Eclipse-basierte «Development Suite», welche ihrerseits die für eine effiziente Anwendungsentwicklung erforderlichen Werkzeuge sowie ein entsprechendes Repository umfasst. Von speziellem Interesse dürfte
die Modeler-Komponente sein, welche auf der von Whitestein entwickelten, RUP-kompatiblen Agent Oriented Development Methodology beziehungsweise Agent Modeling Language (AML) basiert, einer UML 2.0-basierenden Modellierungssprache für die Analyse und das Design komplexer Multi-Agenten-Systeme.





Mit der Living Systems Technology Suite oder einer vergleichbaren Agent Middleware dürften die für einen erfolgreichen Einsatz der Technologie in der Unternehmenspraxis notwendigen technologischen und weitgehend auch methodologischen Voraussetzungen erfüllt sein. Die im Bereich Objekt-orientierter Technologien gemachten Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass dies zwar eine notwendige, keineswegs jedoch eine bereits hinreichende Bedingung für die Akzeptanz in der Unternehmenspraxis ist.
Unabdingbare Voraussetzung hierfür sind zusätzliche Anstrengungen speziell im Bereich der Ausbildung. Da die Agenten-Technologie jedoch neuerdings an vielen Hochschulen fester Bestandteil des Lehrplanes geworden ist, kann
davon ausgegangen werden, dass
das erforderliche Know-how schon bald in vielen privaten und öffentlichen Unternehmen vorhanden
sein wird.





n-Tier Architektur


Der Autor

Marius Walliser (mw@white stein.com) ist Chairman & CEO, Stefan Brantschen (sbr@whitestein.com) Senior VP Business Development von Whitestein Technologies.




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