Die erfolgreiche Evaluation einer Kernbankenlösung
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/06
Die Evaluation und Einführung eines neuen Kernbankensystems hat langfristige und umfassende Auswirkungen. Es gibt kaum eine Person in einer Bank, die nicht in irgendeiner Weise von einem neuen System betroffen wäre: Die Strategie der Geschäftsleitung sollte das neue System in den meisten Bereichen unterstützen, wird ihr aber in anderen gewiss auch Grenzen setzen. Das Handeln und – nicht zu unterschätzen – das Denken der AnwenderInnen wird durch das neue System geprägt werden. Die Produkt- und Prozessgestaltung muss sich den Rahmenbedingungen des neuen Kernbankensystems zumindest teilweise unterordnen. Nicht zuletzt verändert die neue Applikation auch die Arbeit der AnwendungsentwicklerInnnen (bzw. ParametriererInnen) sowie auch der Spezialisten des IT Betriebes.
Damit es bei und nach der Implementierung nicht zu unschönen Aha-Erlebnissen kommt, beschreibt dieser Artikel, wie sichergestellt werden kann, dass alle Anspruchsgruppen einer Bank mit ihren spezifischen Bedürfnissen schon im Auswahlprozess adäquat berücksichtigt werden, wie sie die zu treffenden Entscheidung mitgestalten und damit deren Konsequenzen in der täglichen Arbeit mittragen.
Besteht in einer Bank die Notwendigkeit, ein bestehendes Kernbankensystem abzulösen, so muss nicht notwendigerweise ein neues System angeschafft werden. Die Funktionalität kann beispielsweise auch durch verschiedene Varianten des Outsourcings wie ASP (Application Service Provider) oder BPO (Business Process Outsourcing) abgedeckt werden. Theoretisch könnte ein Kernbankensystem auch massgeschneidert entwickelt werden. Diese Option ist allerdings – wenn überhaupt – nur für die grösseren Institute durchführbar und sinnvoll.
Die Frage nach dem richtigen Sourcing ist primär eine strategische. Aspekte wie Abhängigkeit von Partnern (die teilweise auch Konkurrenten sein können), Flexibilität, Vertrauen und Datenschutz, wie auch die angebotenen Leistungen spielen dabei eine Rolle. Idealerweise wird die Grundsatzentscheidung, ob eine Outsourcing Variante weiterverfolgt wird, vor Beginn des Evaluationsprozesses des Kernbankensystems gefällt.
Um ein gutes Ergebnis zu erzielen, muss die Evaluation eines Kernbankensystems als strukturierter Prozess durchgeführt werden. Die einzelnen Phasen des Evaluationsprozesses
basieren auf unterschiedlichem Input
bedingen den Einbezug unterschiedlicher Personen
verwenden unterschiedliche methodische Elemente
produzieren unterschiedliche Ergebnisse
provozieren unterschiedliche Entscheidungen
In Abbildung 1 sind die typischen Phasen eines Evaluationsprozesses dargestellt.
In der ersten Phase steht die Herausforderung des Kürzens einer potentiell umfangreichen Longlist von Anbietern/Produkten auf eine überschaubare Shortlist im Mittelpunkt des Geschehens. Die Longlist kann aufgrund entsprechender Publikationen oder den Besuch verschiedenen Fachmessen, auf denen praktisch alle Anbieter vertreten sind, relativ schnell und umfassend erstellt werden.
Ausgangspunkt für die erste Auswahl der Anbieter und Produkte bilden die grundsätzlichen Anforderungen, die von der Geschäftsstrategie abgeleitet werden müssen. Eine wesentliche Rolle spielen Aspekte wie
Marktpositionierung, Produktangebot und Grösse der Bank
Internationalität des Institutes
Wahrung zukünftiger Sourcing Optionen
Bestehende Partnerschaften / Hauptkonkurrenten
Flexibilität, Individualität und Agilität vs. Abwicklungs-effizienz und Kostenführerschaft
Für die Grobselektion der Anbieter/Produkte werden u.a. folgende Aspekte berücksichtigt:
Grösse und Zukunftschancen des Anbieters
Reife der Applikation und Stand im Product-Life-Cycle
Technische Modernität
Anzahl der Referenzen des Produkts
Eine bewährte Technik in dieser Phase ist die SWOT Analyse (Strength – Weakness – Opportunity – Threat). Die Anbieter und ihre Produkte werden dabei in Bezug auf diese vier Aspekte qualitativ bewertet. Der direkte Vergleich der einzelnen SWOT-Analysen ermöglicht es meist sehr rasch, die passenden Kandidaten für die Shortlist zu benennen.
Während in der ersten Phase primär das Evaluations-Kernteam zusammen mit der Geschäftsleitung aktiv ist, so vergrössert sich in dieser Phase der Kreis der Involvierten wesentlich und zwar sowohl um wichtige Knowledge-Träger der Bank als auch um Mitarbeiter der Anbieter.
Zuerst werden die Mitarbeiter der Bank aktiv, indem die Ausschreibungsunterlagen in Form eines RFP (Request for Proposal) erstellt werden. Neben den eigentlichen Anforderungen ist in einem RFP auch die Ist-Situation beschrieben. Weiterer wichtiger Bestandteil sind Fragen bez. der Anbieterfirma, ihrer Lizenzmodelle und Preise, Einführungs- und Migrationssupport, Betrieb- und Changemanagement sowie ihrer Produktreferenzen. Die Anforderungen für den RFP werden aus den verschiedenen Bereichen der Bank zusammengetragen, strukturiert und aufbereitet. Dabei muss darauf geachtet werden, dass vor allem diejenigen Anforderungen aufgenommen werden, die für die evaluierende Bank wirklich wichtig sind. Also diejenigen, die den aus der Geschäftsstrategie abgeleiteten Fähigkeiten und Rahmenbedingungen entsprechen. Die Identifizierung der Anforderungen muss sorgfältig erfolgen und sowohl funktionale wie auch nicht-funktionale Anforderungen aus bankfachlicher sowie technischer Sicht abdecken. In praktisch jeder Bank werden ausser dem Kernbankensystem noch weitere Applikationen eingesetzt. Die zukünftige Einbettung des Kernbankensystems in die Applikationslandschaft (inkl. Bank-externer Systeme) sowie die hierfür benötigten Schnittstellen werden ebenfalls beschrieben.
Naturgemäss wird jeder Anbieter in der Beantwortung der Fragen alles daransetzen, möglichst bei allen Punkten ein «vollständig erfüllt» als Antwort abgeben zu können. Um die Antworten der Anbieter nachvollziehen und eigenständig werten zu können, ist es unabdingbar, dass die Anbieter bei jedem Punkt auch erläutern, auf welche Art und Weise die Anforderung erfüllt wird.
Um die Antworten der Anbieter möglichst systematisch auswerten zu können, behilft man sich gerne mit einem hierarchisch strukturierten Kriterienkatalog. Die einzelnen Kriterien und Kriteriengruppen werden «gewichtet», der Erfüllungsgrad pro Kriterium wird auf einer Skala bewertet und mit dem entsprechenden Gewicht multipliziert, was dann die eigentliche Bewertung für dieses Kriterium ergibt.
Untersuchungen zeigen, dass der Mensch relativ schlecht mehreren Kriterien direkt Gewichte zuordnen kann, aber gut die relative Gewichtung von jeweils nur zwei Kriterien bestimmen kann. Diesen Sachverhalt nutzt die von Dr. Thomas Saaty entwickelte AHP (Analytic Hierarchy Process) Methode und ermöglicht – basierend auf einem mathematischen Verfahren mit entsprechender Werkzeugunterstützung – eine deutlich verbesserte Bestimmung der Gewichtungen. Das Verfahren kann auch dazu eingesetzt werden, die Meinung einzelner Personen einer Gruppe bezüglich Gewichtung und Erfüllungsgrad strukturiert zu berücksichtigen und den Konsensgrad explizit darzustellen.
Mehr Kriterien bedeuten in einer Evaluation nicht unbedingt bessere Entscheidungen. Je mehr Kriterien berücksichtigt werden, desto geringer der Einfluss eines einzelnen Kriteriums. Es lohnt sich – nicht nur aufgrund des Aufwands – die Anzahl Kriterien möglichst überschaubar zu halten.
Der Kriterienkatalog wird durch Bündelung der Einzelkriterien strukturiert, wobei die einzelnen Kriteriengruppen ebenfalls gewichtet werden, diesmal aber nicht durch die Spezialisten, sondern durch das Management.
Der Anbieter und sein Produkt kann nur teilweise aufgrund von Unterlagen beurteilt werden. Ab einem bestimmten Punkt müssen die Anbieter in den Prozess aktiv eingebunden werden. Einerseits können gewisse Aspekte nur auf diese Weise vertieft ausgeleuchtet werden, andererseits kann so ermittelt werden, wie kundenorientiert der Anbieter sich verhält, welche Skills seine Mitarbeiter aufweisen und wie sie in der Unternehmung verteilt sind, ob man sich versteht und eine ähnliche Sprache spricht, ob die kulturellen Werte übereinstimmen und wie hektische Projektphasen gemeinsam gemeistert werden können.
Die Zusammenarbeit in der Evaluationsphase mit dem Anbieter umfasst typischerweise verschiedene Aktivitäten:
Selbstdarstellung des Anbieters und seines Produktes
Workshops zu bestimmten Themen wie IT-Architektur-, Parametrisierung etc.
Das Durchspielen von bankseitig definierten Geschäftsfällen und Szenarien live am System
Besuch bei Kunden, die das System bereits im Einsatz haben
Die Erfahrungen mit dem Anbieter aus der Evaluationsphase bilden ein wichtiges Element in der abschliessenden Gesamtbeurteilung.
Je weiter der Evaluationsprozess fortschreitet, desto mehr Details werden von den verschiedenen Anbietern und ihren Produkten bekannt. Es ist Aufgabe des Evaluationsteams und des involvierten Managements, alle Informationen permanent auf ihre Relevanz zu hinterfragen. Ein Evaluationsprozess ist auch für die Bank ein Lernprozess. Es ist durchaus normal, dass im Rahmen der Anbieter-Workshops neue Anforderungen aufgenommen, andere gestrichen und wieder andere neu gewichtet werden.
Im Laufe der Evaluation müssen die Beteiligten der Bank dazu übergehen, die bankfachliche Welt (Begrifflichkeiten, Prozesse, etc) des Produktes zu verstehen und auch dessen Konzepte anzunehmen. Spätere Parametrisierungen in einzelnen Bereichen müssen aus der Perspektive des Produktes durchgeführt werden, nicht aufgrund der bestehenden Umsetzung im abzulösenden System.
Ist die Evaluation abgeschlossen und das System gewählt, gibt es kein Zurück mehr. Die Bank muss sich dann den Rahmenbedingungen des eingekauften Kernbankensystems anpassen. Je klarer daher die Entscheidung ausfällt und je grösser der Konsens in der Bank über die Entscheidung, desto besser lassen sich spätere Diskussionen um die richtige Wahl vermeiden.
Eine Bank evaluiert eine Kernbankenlösung üblicherweise nur in sehr grossen Zeitabständen. Das Wissen um den Evaluationsprozess gehört daher nicht zu den Kernkompetenzen einer Bank. Somit ist es sinnvoll, wenn die Bank durch unabhängige Experten unterstützt wird, welche
das Bankgeschäft und damit die Bedürfnisse aus fachlicher Sicht kennen
die Anbieter und ihre Produkte aus Evaluations- und Implementationsperspektive kennen
IT-Aspekte wie Architektur, Security, Integration und anderes besser beurteilen können
Best Practices entlang des gesamten Evaluationsprozess wie z.B. Erstellung von RFP oder Kriterienraster einbringen
den ganzen Prozess aktiv begleiten, Workshops vorbereiten und moderieren sowie die Bank unterstützen, die Entscheidungsunterlagen adäquat aufzubereiten
Mit der richtigen Unterstützung kann jede Bank die für sie geeignete Kernbankenlösung auswählen.