Ich schreibe gerne über Innovation und darüber, wie wir unsere eigenen Start-ups besser unterstützen sollten. Durch meine Tätigkeit bespreche ich diese Themen auch oft im Alltag und habe leider immer wieder das Gefühl, dass viele Menschen den Ernst der Lage nicht verstehen oder denken, dass sie nicht davon betroffen sind. In den letzten Monaten hat uns die Weltpolitik aber deutlicher als auch schon die Augen geöffnet. Während in Amerika gerade Tiktok wegen zu grosser ausländischer Einflussnahme zwangsverkauft wird, diskutieren wir hierzulande nur sehr zögerlich über solche Gefahren. Wir sollten uns in Europa aber langsam wirklich Sorgen über die komplette Abhängigkeit von amerikanischer Technologie machen. Nicht nur als Schlagzeile, sondern als unsichtbare Infrastruktur, die längst zu einem politischen Machtinstrument geworden ist. Unsere Wirtschaft, unsere Verwaltungen, unsere öffentliche Meinung, laufen auf Systemen, die wir weder entwickeln noch kontrollieren. Das fehlende Kapital, die Dezentralisierung der Märkte und der Regulierungen haben leider auch dazu geführt, dass wir in den nächsten Jahren nur schwer davon wegkommen.
Wir sprechen viel über Energie, Lieferketten oder Rohstoffe und mussten schnell und hart einsehen, dass unsere grösste Verwundbarkeit mittlerweile digital ist. Zwischen 75 und 85 Prozent der europäischen Unternehmen nutzen AWS, Microsoft Azure oder Google Cloud. Rund 95 Prozent der grossen KI-Modelle laufen auf amerikanischen Plattformen. Top Schweizer Start-ups aus der Weltraumindustrie müssen in die USA reisen, damit sie ihre Technologie überhaupt ins All kriegen.
Dabei zeigt uns die Realität gerade, dass Technologie kein neutrales Gut mehr ist. Exportkontrollen, Chip-Restriktionen, Lizenzpolitik, Digitalsteuer-Deals. Technologie als Machtmittel. Die US-Regierung hat die Linie gesetzt. China verfolgt dieselbe Logik, Indien ebenfalls. Nur Europa scheint darauf vertraut zu haben, dass sich diese Realitäten an unseren Werten orientieren – oder dass sich die Partnerschaft mit den USA nie verändert.
Die fehlende lokale Innovation führte zu einem beängstigenden Mangel an Alternativen. Die neuen Technologien unserer Start-ups bauen auf amerikanischen APIs, unsere kritischen Infrastrukturen, die Energieversorgung, die Kommunikation, alles hängt an denselben Plattformen. Selbst ein Gros unserer Gesundheitsdaten werden künftig von der US-Firma Epic verarbeitet. LLMs lenken Narrative, priorisieren Inhalte und beeinflussen Debatten. Twitter/X zeigt, wie ein einzelner Akteur Stimmungen verstärken oder dämpfen kann, und trotzdem informieren unsere offiziellen Departemente weiterhin fast ausschliesslich über diese Plattform (auf der Meldungen nicht einmal mehr gelesen werden können, ohne einen Account zu besitzen!).
Lichtblicke existieren, zum Beispiel das Apertus-LLM der EPFL, ETH und des CSCS, ein Schweizer Sprachmodell, das nicht nur Sicherheit und Souveränität ermöglicht, sondern zeigt, dass wir technologisch durchaus mithalten können. Oder auch die Deep-Tech-Nation-Initiative, die beweist, dass man eine Strategie nicht nur formulieren, sondern leben kann.
Wir müssen uns wieder vermehrt auf unsere Stärken fokussieren, und die liegen nicht im Silicon-Valley-Modell, sondern in Spitzenforschung, Deep-Tech-Know-kow, Lebensqualität, stabilen sozialen Systemen, Sicherheit, verlässlichen Institutionen, Qualität statt Geschwindigkeit und echten Public-Private-Partnerships. Wir müssen handeln und an einem Strang ziehen. Initiativen ins Leben rufen und Blockaden abbauen. Denn kaum ein Tech-Talent zieht freiwillig nach San Francisco, wenn es auch in Zürich, Wien, München, Kopenhagen oder Barcelona leben könnte, sofern die Rahmenbedingungen stimmen.
Matthias Herrmann
Matthias Herrmann ist Investor, Unternehmer und Berater in den Bereichen Innovation, IT und Gesundheitswesen. Er leitet den Bereich Digital Health und den Digital-Health-Fonds bei der Firma Tenity und ist als Experte für die Bereiche Life Sciences und ICT für die Innosuisse tätig. Er ist ausserdem Verwaltungsrat der NGO Make Me Smile International und unterstützt mehrere Start-ups im Advisory Board.