Perioden sozialer Instabilität werden vor allem von zwei Faktoren getrieben: einer wachsenden ökonomischen Ungleichheit sowie der Überproduktion von Eliten. Detailliert beschreibt dies der Komplexitätsforscher Peter Turchin, der sich mit der statistischen Dynamik und Analyse historischer Gesellschaften beschäftigt, in seinem Buch «End Times». Kommen diese beiden Faktoren zusammen, so seine These, steigt die Chance für den Zusammenbruch einer bestehenden sozialen Ordnung, und zwar dramatisch. Es stellt sich die Frage, ob KI als Brandbeschleuniger wirkt.
Spätestens seit der Veröffentlichung von «Kapital im 21. Jahrhundert» des französischen Ökonomen Thomas Piketty steht die Thematik der wachsenden ökonomischen Ungleichheit in der breiteren Öffentlichkeit. Piketty vertritt darin die These, dass die Vermögenskonzentration in den Industrienationen seit Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich gestiegen ist. Seitdem werden diese Aussagen von rechts nach links kontrovers diskutiert. Vor Kurzem kam sogar die RAND Corporation, ein Eckpfeiler konservativen amerikanischen politischen Denkens, zu dem Schluss, dass allein in den USA den unteren 90 Prozent der Bevölkerung zwischen 1975 und 2018 47 Billionen Dollar an steuerbarem Einkommen verloren gingen (Trends in Income 2020). Mit anderen Worten: Die wachsende ökonomische Ungleichheit ist eine Realität.
Somit wäre gemäss Turchin die erste Bedingung für eine prä-revolutionäre Situation erfüllt. Was ist mit der zweiten – der Überproduktion von Eliten?
Elitenüberproduktion
Elitenüberproduktion ist dann gegeben, wenn eine Gesellschaft mehr Eliten ausbildet, als von ihrer Machtstruktur absorbiert werden kann. Angesichts der in den vergangenen Jahrzehnten stark wachsenden Zahl der Universitätsabsolventen ist davon auszugehen, dass sich auch diese Grundbedingung akzentuiert und somit den möglichen Zusammenbruch des westlichen Gesellschaftssystems gemäss Turchin wahrscheinlich macht.
An dieser Stelle wird das Potenzial von KI relevant: Obwohl immer mehr Zweifel am Potenzial der aktuellen Hype-Technologie bestehen (siehe aktuelle Studien von Apple «The Illusion of Thinking», OpenAI «Why Language Models Hallucinate», MIT «The GenAI Divide») lohnt es sich, die potenziellen Auswirkungen zu überdenken.
Sozialer Abstieg der Eliten
Gemäss Prognosen sollen von KI nämlich nicht nur Arbeiter, sondern auch hochbezahlte Jobs betroffen sein. Direkt betroffen sind aktuell vor allem Softwareentwickler, Inhaltsersteller und Übersetzer. Die Meldungen über Entlassungen bei amerikanischen Big-Tech-Unternehmen reissen in den letzten Monaten nicht ab und auch in der Schweiz sind zurzeit praktisch keine Juniorstellen offen.
Gleichzeitig hängt das KI-Damoklesschwert über zahlreichen Stellen im mittleren Management grosser Unternehmen, sowie bei Juristen, Wirtschaftsprüfern und Marketingspezialisten. All diese Menschen verdienen überdurchschnittlich viel und dürften den drohenden sozialen Abstieg bald zu spüren bekommen. Was macht die Gesellschaft mit einer potenziell schnell anwachsenden Gruppe von Menschen, die bis kurz vor knapp noch Eliten waren oder sich als auf dem Weg in diese Rolle betrachteten?
Wenn wir nach Amerika schauen, dann wohl relativ wenig: Es gilt das Gesetz des Dschungels. Der amerikanische Rust Belt spricht eine eindrückliche Sprache von den Auswirkungen massiver wirtschaftlicher Neuordnungen und dem Wunsch amerikanischer Eliten, in Retraining zu investieren. Und auch bei uns in Europa dürfte die zunehmende wirtschaftliche Eindunkelung unsere bröckelnden sozialen Systeme weiter unter Druck setzen. Mehr oder minder sich selbst überlassen, dürften einige dieser Menschen anfangen, über Alternativen nachzudenken – potenziell durch die Lektüre der Biografien von Mao oder Lenin.
Um allen politischen Spielarten gerecht zu werden, darf nicht vergessen werden, dass sich die europäische Parteienlandschaft in Folge der Bankenkriese 2008 nachhaltig verändert hat. Mehr oder minder zeitgleich rückten in vielen Ländern viele eher am rechten Rand befindliche Parteien ins wählbare Spektrum. Die damit verbundene Zerrüttung der Nachkriegsordnung hält bis heute an. Insofern sollte man vielleicht noch die Biographien von Mussolini und Hitler hinzufügen. Das wäre für die IT-Branche das wirtschaftlich positive Szenario, so denn KI tatsächlich ihr angedachtes Potenzial erfüllt.
Bullshit-Jobs
Da es sich um ein dynamisches System handelt, können weitere verdeckte Faktoren die Entwicklung noch deutlich beschleunigen. Ein möglicher solcher Faktor sind die sogenannten Bullshit-Jobs: Der Anthropologe David Graeber stellte diese Theorie in einem Essay 2013 vor und legte 2018 ein ganzes Buch «Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit» zum Thema nach.
«Ein Bullshit Job ist eine Form der bezahlten Beschäftigung, die so sinnlos, unnötig oder schädlich ist, dass sogar die Beschäftigten selbst die Existenz der Beschäftigung nicht rechtfertigen können, auch wenn die Beschäftigten sich durch ihre Arbeitsbedingungen gezwungen fühlen, dies nicht zuzugeben».
Graeber schätze den Anteil dieser Tätigkeiten auf zwischen 20 und 50 Prozent. Seitdem wird auch die These kontrovers diskutiert, legt sie doch einen Finger auf empfindliche soziale Befindlichkeiten. Verschiedene Studien widerlegen oder bestätigen zwischenzeitlich die Existenz der Bullshit-Jobs. Zuletzt sogar aus der Schweiz, wo der Soziologe Simon Walo (Bullshit’ After All?) das Phänomen, zumindest für die USA, nicht nur als bestätigt ansieht, sondern auch bei etwa 20 Prozent ansetzt.
Kaum eine andere Technologie als funktionierende KI dürfte dies so dramatisch offenlegen und somit, potenziell, Turchins Theorie schneller als richtig oder falsch bestätigen als angenommen.
Vielleicht haben wir aber auch Glück und KI entpuppt sich als ein weiterer IT-Hype, womit uns die nächste Revolution erspart bleibt.
Womit wir dann auch nicht mehr länger darüber nachdenken müssen, wie eine Gesellschaft aussieht, in der auch die (einst) topbezahlten und bestausgebildeten Eliten irgendwie beschäftigt bleiben.
Die in diesem Artikel erwähnten Bücher
Peter Turchin – End Times: Eliten, Gegeneliten und der Weg der politischen Desintegration. Was führt zu politischen Unruhen und sozialem Zusammenbruch?
Thomas Piketty – Das Kapital im 21. Jhd.: Thomas Piketty zeigt, dass das moderne ökonomische Wachstum und die Verbreitung des Wissens es uns ermöglicht haben, Ungleichheit in dem apokalyptischen Ausmass abzuwenden, das Karl Marx prophezeit hatte.
David Graeber – Bullshit Jobs: 1930 prophezeite der britische Ökonom John Maynard Keynes, dass durch den technischen Fortschritt heute niemand mehr als 15 Stunden pro Woche arbeiten müsse. Die Gegenwart sieht anders aus.