«Swiss IT Magazine»: Herr Niederstein, Sie sind seit mehr als 25 Jahren in der IT – und dabei der fertigenden Industrie immer treu geblieben.
Thomas Niederstein: Richtig – in die IT gekommen bin ich mit meinem Wechsel von Sihl Papier zu Geberit im Jahr 1999. Ich kam damals aus der Produktionsleitung, war aber bereits sehr informatikaffin, könnte man sagen. In dieser Zeit habe ich zudem erste IT-Projekte auf Businessseite begleitet, was meinen Einstieg in die IT nachhaltig geprägt hat.
Und wie ging dieser dann vonstatten?Als ich später in die IT wechselte, wollte ich ursprünglich tiefer in die Logistik- und Warenwirtschaftswelt rund um SAP eintauchen. Doch meinen Einstieg fand ich im Bereich Business Intelligence. Durch das Reporting erhielt ich Einblicke in zahlreiche Unternehmensprozesse – von Sales über Supply Chain Management bis hin zu HR. Dieses breite Verständnis hat meinen weiteren beruflichen Weg stark geprägt und mir ein ganzheitliches Bild der Abläufe vermittelt.
Gerade in der Industrie schritt die digitale Transformation nicht immer schnell voran. Wie viel Informatik war denn damals überhaupt in den Systemen?Wir haben um 1995 in der Sihl Papier SAP eingeführt und unter anderem angefangen, das Hochregallager mit Software zu steuern. Aber nichts hing zusammen, es war viel Papier und verbale Kommunikation im Spiel. Spass gemacht hat es trotzdem (lacht)!
…also sind Sie nicht von der technischen, sondern von der Prozess-Seite in die Informatik gekommen.Genau. Für mich gibt es zwei Typen von CIOs: Die einen kommen von den Prozessen her, die anderen von der Infrastruktur. Ich glaube persönlich, dass die Prozess-Seite künftig sogar noch wichtiger werden wird als sie heute schon ist. Man muss als CIO die Prozesse verstehen und seine Stakeholder abholen können. Denn je länger, je mehr ist man in der CIO-Rolle vor allem in einer Rolle als Business Enabler.
Thomas Niederstein
Thomas Niederstein (60) ist seit über 40 Jahren in der fertigenden Industrie tätig, mehr als 25 Jahre davon im Informatik-Bereich. Um die Jahrtausendwende wechselte er von seiner Position als Produktionsleiter bei Sihl Papier zu Geberit und damit in seine erste Rolle in der Informatik. Folgende Karrierestationen waren Reichle & De Massari, Belimed und die Schleuniger Group. Seit 2022 amtet Niederstein als CIO der Haag-Streit Group. Weiter ist er Gründer und Leiter der Interessensgemeinschaft Microsoft Schweiz (IG Microsoft CH). Thomas Niederstein lebt mit seiner Frau am linken Zürichseeufer.
Wie meinen Sie das?Man hat als CIO Einblick in alle Bereiche des Unternehmens. Themen wie digitale Prozesse oder auch Security und Datenschutz finden sich schliesslich überall. Das ist viel Verantwortung und muss somit auch ganz oben angesiedelt sein. Wer die Digitalisierung vorantreiben will, braucht IT-affine Personen in den Entscheidungsgremien.
Gehe ich also richtig in der Annahme, dass Sie in der Geschäftsleitung bei Haag-Streit sitzen?Nein. Ich bin klassisch dem CFO unterstellt.
Das Thema des CIOs in der Geschäftsleitung kommt bei einigen dieser CIO-Interviews auf den Tisch und es gibt erfahrungsgemäss zwei Typen: Die einen CIOs sitzen nicht in der GL und argumentieren, dass das nur in bestimmten Branchen notwendig ist. Die anderen sitzen in der GL und halten das auch für zwingend notwendig. Sie scheinen zwischen diesen Fronten zu stehen. Kämpfen Sie in Ihrem Unternehmen um den GL-Sitz?Es kommt drauf an. Bei Haag-Streit haben wir beispielsweise eine durchaus gute konzeptionelle Aufstellung, zumal erstens die Kollaboration zwischen mir, dem CFO und dem CEO vertrauensvoll und eng abgestimmt ist, zweitens die Entscheidungs- und Kommunikationswege kurz sind und drittens der CFO ebenfalls sehr IT-affin ist. Das ermöglicht ein konstruktives Arbeiten und ist durchaus gangbar. Allerdings ist eine solch enge Zusammenarbeit leider nicht der Normalfall, sondern eher die Ausnahme. Entsprechend bin ich überzeugt, dass der CIO im Normallfall Teil der GL sein sollte, damit sichergestellt werden kann, dass relevante Themenfelder frühzeitig erkannt und mitgestaltet werden können.
Haben Sie dafür ein Beispiel parat?Nehmen wir die Produktentwicklung: Auch wenn einige Themen für einen CIO irrelevant sein mögen, so müssen die wesentlichen Prozesse jedoch zwingend dem CIO bekannt sein.
Können Sie das etwas ausführen?
Heutzutage verkauft man – zumindest in den Firmen, in denen ich tätig war und bin – keine Produkte mehr, sondern ganzheitliche Lösungen, die aus Equipment, einer Software und einem Prozess bestehen. Gerade deshalb ist es heute entscheidend, dass bei End-to-End-Abläufen jemand beteiligt ist, der den Prozess bereichsübergreifend versteht und orchestrieren kann. Ohne dieses ganzheitliche Verständnis lassen sich moderne Lösungen weder effizient entwickeln noch erfolgreich im Unternehmen verankern. Damit ist automatisch auch die IT betroffen. Allerdings gibt es immer wieder Digitalisierungsprojekte für Kunden, wo die IT nicht an Bord ist.
Leerläufe und Probleme scheinen so vorprogrammiert.
Korrekt. Die Folge ist, dass Lösungen entwickelt werden, ohne den gesamten Kontext zu sehen. Da ist es stellenweise nötig, einzugreifen und klarzustellen: Wenn wir digitalisieren wollen, müssen wir erst harmonisieren. Alle diese Themen müssen ganzheitlich gemanagt werden, damit sichergestellt wird, dass alle Prozesse und Faktoren berücksichtigt werden. Es ist also vor allem wichtig, dass der CIO eine gewisse Position in der Firma hat, damit er alles mitbekommt, was wichtig ist. Saubere Digitalisierung führt dann auch zur Einsparung von Kosten. Wenn man beispielsweise weiss, wie sich das Geschäft entwickelt, können Ressourcen und Lizenzen entsprechend gemanagt werden.
Welche Themen verantworten Sie als CIO denn bei Haag-Streit?
Verantwortlich sind wir für alles, was das Business zum Arbeiten braucht. Erstens sind das Infrastruktur-Themen – beispielsweise Netzwerk und Connectivity, Server, Cloud und Storage, Security und Compliance sowie Arbeitsplatzumgebung und die zugehörige Software. Zweitens verantworten wir das Thema Business-Applikationen. Core-Systeme und gruppenweite genutzte Software verantworten wir dabei selber, einzelne lokale Anwendungen werden aber vom Business selbst betrieben. Dieser Anteil ist klein, die Herausforderung ist dabei aber immer, keine Schatten-IT entstehen zu lassen. Da kommt beispielsweise das Business und fragt plötzlich nach einer Anbindung.
…während Sie in der IT nicht mal wissen, dass es diese Business-Anwendung überhaupt gibt.
Genau. Dabei müssen zunächst Grundsatzdiskussionen geführt werden, ob die Anwendung und ihre Anbindung überhaupt erforderlich sind respektive in die Systemlandschaft passen. Gleichzeitig müssen Sicherheitsaspekte sowie Datenschutzfragen geklärt werden.
Haag-Streit produziert hochspezialisiertes Equipment im Med-Tech-Bereich. Im Bild eines der wichtigesten Geräte für Augenärzte: Eine sogenannte Spaltlampe (auch Spaltlampenmikroskop genannt) für Untersuchungen am Auge des Patienten. (Quelle: Haag-Streit)
Sie haben vorhin bereits kurz die Produktentwicklung und damit eigene Software angesprochen, die Ihr Unternehmen entwickelt. Ist die IT hier auch mit an Bord?
Nein. Die Software, die direkt unsere Produkte betrifft – wie etwa die Software für Simulationsgeräte für chirurgische Trainings – wird nicht von der IT-Abteilung entwickelt. Unsere IT stellt jedoch bei Bedarf die notwendige Infrastruktur, Zugänge und technische Unterstützung bereit. Damit positionieren wir uns als verlässlicher Partner und Service-Organisation, die den Betrieb und die Weiterentwicklung des Unternehmens aktiv unterstützt.
Wie viele Personen haben Sie in Ihrem IT-Team?
Aktuell sind das 16 Leute.
Und wie viele Clients und Server betreuen Sie mit Ihrem Team?
Wir haben rund 1000 Clients und etwa 200 eigene Server im Rahmen unserer Hybrid-Cloud-Strategie.
Für 16 Personen scheint das doch recht viel. Also arbeiten Sie auch eng mit Partnern zusammen?
Wir sind stark auf Partner angewiesen, denn als KMU kann man gewisse Themen schlicht nicht abdecken. Wir verantworten die Core-Funktionen, den Rest kaufen wir zu. Die HR-Anwendungen werden beispielsweise eingekauft. Wir könnten das zwar betreiben, aber es reicht nicht, um eine Person ganz zu beschäftigen.
Und selbst wenn man eine Person damit beschäftigen könnte, würde dann die Redundanz fehlen.
Das kommt noch dazu. Auch müsste diese Person sehr spezialisiert sein, da wir international tätig sind und sich HR-Themen je nach Markt unterscheiden. Ein anderes Beispiel ist das SOC (Security Operations Center) – hier haben wir keine Chance, das selbst abdecken zu können.
Wie blicken Sie auf diese Partnerschaften in Ihrer Zeit als CIO von Haag-Streit zurück? Gab es über die Jahre relevante Strategiewechsel oder Prinzipien, die sie verfolgen?
Für mich sollte ein Partner Near-Shore sein. Dazu gehört selbstverständlich ein partnerschaftlicher Umgang miteinander. Darüber hinaus habe ich gelernt, dass eine transparente und gezielte Führung der Partner entscheidend ist.
Wie meinen Sie das?
Ein Partner hat verständlicherweise immer einen anderen Fokus als wir intern. Das hat erstmal nichts mit der Qualität zu tun – der Dienstleister ist aber natürlich ständig im Verkaufsmodus. Aus Sicht der IT muss man seine Partner daher stets challengen. Und man braucht einen gewissen Mut, um auch offen und ehrlich sagen zu können, falls die Zusammenarbeit oder ein externer Mitarbeiter nicht passt. Strategisch gesehen versuche ich aber, langjährige Partnerschaften zu pflegen.
Gibt es weitere Grundsätze in der Partnerstrategie?
Ein weiterer Grundsatz von mir ist: Keine zu grossen Partner.
Haben Sie schlechte Erfahrungen mit grossen Partnern gemacht?
Wir haben früher mit der Accenture-Tochter Avanade zusammengearbeitet. Das war viel zu gross für uns und hat nicht funktioniert. Auch bei den Partnern achte ich also darauf, dass diese im mitteständischen Bereich sind.
Operationsmikroskope, die besonders in der minimalinvasiven Chirurgie zum Einsatz kommen, gehören ebenfalls zum Portfolio von Haag-Streit. Spannendes Detail: Das abgebildete Modell Metis zeigt das Bild des Mikroskops auf einem zusätzlichen hochauflösenden Bildschirm. (Quelle: Haag-Streit)
Welche sind da die wichtigsten?
Ich halte das bewusst überschaubar mit einigen wenigen Partnern. Die wichtigsten sind Campana und Schott, HSO, Infoguard, PHWE, Cyberopex und Sofwareone.
In Ihrer langjährigen Karriere als Informatikverantwortlicher in Industriebetrieben haben Sie den Hype rund um das Thema Industrie 4.0 – sprich der Schritt hin zu einer smarten, vernetzten Fabrik – in voller Länge miterlebt. Die Digitalisierung der Industrie scheint noch lange nicht vollzogen zu sein, man spricht aber hier und dort schon von Industrie 5.0. Wo steht die fertigende Industrie in dieser Entwicklung heute?
Aus meiner Erfahrung in der Papierindustrie weiss ich, dass tiefgreifende Digitalisierung Zeit braucht – damals ging es um die Ablösung von Papier durch den Computer, was Jahre gedauert hat. Heute arbeiten wir nahezu papierlos. Bei Industrie 4.0 sehe ich ein ähnliches Bild: Die Transformation ist im Gange, aber noch nicht abgeschlossen. Aktuelle Entwicklungen wie KI treiben das Thema jedoch zunehmend voran und beschleunigen die Vernetzung und Automatisierung in den Fabriken.
Was hat KI verändert?
Ein Beispiel: Ein hiesiges Industrieunternehmen hat all die neuen Maschinen eingerichtet und diese vernetzt. So weit, so gut. Operators für diese komplizierte Maschine anzulernen, ist aber extrem aufwändig. Etwa, weil diese all die möglichen Fehlercodes kennen müssen. Hier hilft KI sehr, indem sie etwa in natürlicher Sprache diese Fehlercodes ausgeben und Lösungen entgegennehmen kann. Ausserdem hilft die KI-Übersetzung, wenn ein Unternehmen verschiedene Produktionsstandorte und Operators mit anderen Muttersprachen hat. Diese neuen Technologien werden dem Thema Industrie 4.0 – man könnte das übrigens auch einfach IoT nennen – einen weiteren Schub geben.
Der Begriff Industrie 4.0 ist an diesem Punkt bald 15 Jahre alt. Technologisch wären wir auch schon deutlich früher soweit gewesen, Fabriken vernetzen zu können. Warum hat das so lange gedauert? Wo stand die Branche an?
Das gilt für jeden Kulturwechsel: Am Change Management.
Die grösste Hürde für die nächste industrielle Revolution sind menschliche Gewohnheiten?
Vielleicht war hier und da die Technologie auch noch nicht weit genug. In meiner Erfahrung hat sich aber klar gezeigt: Verstehen und vermitteln, warum man etwas macht und was die Vorteile sind, ist das Wichtigste für Veränderung. Und: Es muss vom Management getragen werden. Ausserdem stellen die Hyperscaler in einem rasanten Tempo neue Funktionen zur Verfügung, welche wir gar nicht in dieser Taktfrequenz umsetzen können.
…wo sich der Kreis zur Frage schliesst, auf welcher Führungsetage IT-Verantwortung strategisch verankert sein sollte.
Korrekt. Allerdings gilt es zu beachten, dass das Change Management nicht einfach von der IT vorangetrieben werden kann, sondern die Verantwortung der gesamten Führungsetage ist.
Die Wichtigkeit von Change Management beschränkt sich aber wohl nicht nur auf solche grossen Entwicklungen. Sehen Sie dieses Thema allgemein als eine der wichtigsten Prioritäten in Ihrer Rolle?
Als CIO ist es entscheidend, transparent zu kommunizieren und komplexe Themen verständlich an das Business zu vermitteln. Hier haben wir, im Vergleich zu rein technologieorientierten CIOs, einen Vorteil, weil wir stärker prozessorientiert arbeiten. Denn so wichtig die IT auch ist: Ganz alleine kann sie nichts bewegen.
Und was braucht es, damit die IT etwas bewegen kann?
Erstens bin ich überzeugt, dass konsequente Standardisierung und Harmonisierung der IT entscheidend sind, um dem Business echten Mehrwert zu bieten und gleichzeitig effizient zu arbeiten.
Und zweitens?
Hier komme ich wieder aufs Thema Change Management zurück. Wer harmonisieren und anschliessend transformieren möchte – zum Beispiel durch den Einsatz von KI-Lösungen – stösst oft auf die Angst, dass Jobs verlorengehen könnten. Natürlich kann das in Einzelfällen passieren. In der Realität verschwindet ein Job jedoch nicht einfach, sondern Arbeitszeit wird freigesetzt: Ein Einkäufer spart etwa eine kleine, aber spürbare Menge an Routinearbeit pro Tag. Und genau hier wird es spannend: Diese Zeit kann er nun sinnvoller einsetzen, zum Beispiel, indem er seine Lieferanten aktiv herausfordert, anstatt Belegen hinterherzurennen.
Hinter der Harmonisierung und Standardisierung steckt also kein versteckter Stellenabbau, das Ziel muss Umsatz- und Qualitätssteigerung sein?
Ja, und um das zu erreichen, muss man automatisieren respektive gewisse bestehende Funktionen in ein digitales System integrieren. Letztlich muss sich ein CIO immer fragen: «Wo kann ich für den Endkunden einen echten Nutzen generieren?»
Zum Unternehmen
Die Haag-Streit Group ist ein internationales Medizintechnikunternehmen mit Hauptsitz in Köniz in der Schweiz. Der Konzern hat Tochtergesellschaften in Europa, Nordamerika und Asien. Rund 860 Mitarbeitende entwickeln, produzieren und vertreiben Geräte und Gesamtlösungen für die medizinische Diagnose, die Mikrochirurgie und die Ausbildung von Augenspezialisten. Seit 2018 gehört sie als Medical-Devices-Sparte zu Metall Zug.