Der Tag, an dem ich diese Kolumne schreibe, ist der 20. September 2025 – ein «überdurchschnittlich warmer Herbsttag», wie die morgendliche Wetterprognose am Radio konstatiert. Auch ich bringe Ihnen eine Prognose; und diese ist leider düster.
Die Bedarfsprognose 2033 von ICT-Berufsbildung Schweiz zeigt, dass das Berufsfeld ICT im Jahr 2024 mit 266’000 Beschäftigten einen neuen Höchststand erreicht hat. Das ist noch nicht die düstere Nachricht. Jedoch werden wir bis zum Jahr 2033 über ein Viertel davon auf dem Arbeitsmarkt verlieren (Pensionierungen und Abwanderung), und knapp ein weiteres Viertel zusätzlich ersetzen müssen (Strukturwandel und Wirtschaftsentwicklung). Bis 2033 benötigen wir dementsprechend rund 128’600 zusätzliche ICT-Fachkräfte (Brutto-Fachkräftebedarf); also fast die Hälfte der heutigen ICT-Beschäftigten. Per se; noch immer nicht düster. Denn schliesslich gibt es ja zahlreiche ICT-Fachkräfte, die neu in den Arbeitsmarkt treten oder vom Ausland zuwandern, oder? Korrekt; nämlich 74’200 Personen total. Im Jahr 2033 fehlen uns also rund 54’400 ICT-Fachkräfte; und DAS, liebe Leserinnen und Leser, ist düster.
«Das kann unmöglich sein!», wird manch einer reflexartig denken. Schliesslich hat man in den vergangenen Wochen und Monaten mehrmals gelesen, wie der Arbeitsmarkt schwächelt, die Arbeitslosenquote gestiegen ist oder Jobs von KI übernommen werden. Und tatsächlich; eine Studie der Stanford University besagt beispielsweise, dass seit der Einführung von ChatGPT Ende 2022 die Beschäftigung junger Softwareentwicklerinnen und -entwickler im Alter von 22 bis 25 Jahren um rund 20 Prozent zurückgegangen ist. Hierzu ein kurzer historischer Exkurs. Technologische Entwicklungen haben den Arbeitsmarkt schon immer geprägt. Besonders in den letzten Jahrzehnten hat die Digitalisierung dazu geführt, dass viele routinemässige Tätigkeiten durch Automatisierung ersetzt wurden. Wie genau sich KI aktuell und vor allem zukünftig auf den Arbeitsmarkt auswirken wird, lässt sich noch nicht eindeutig vorhersagen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass aufgrund oder trotz Digitalisierung die Gesamtbeschäftigung (wie auch die Zahl der ICT-Beschäftigten) in der Schweiz in den letzten rund 15 Jahren zugenommen hat. Was aus meiner Sicht jedoch absolut zu erwarten ist, sind Veränderungen in den Kompetenzanforderungen innerhalb der Berufe, also qualitative Veränderungen. Aufgrund ihrer vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten wird KI mittelfristig und langfristig in zahlreichen Branchen und Berufen die Arbeitsbedingungen und die gefragten Qualifikationen grundlegend verändern.
Auch wenn die geopolitische und konjunkturelle Lage aktuell ein anderes Bild zeichnet, dürfen wir uns dem langfristigen Trend und der demographischen Entwicklung nicht verschliessen. Es ist aus meiner Sicht dementsprechend essenziell, dass man aktuell nicht nur die Seniors weiterentwickelt, sondern von Beginn weg auch die Juniors integriert. Unternehmen tun gut daran, auch ihre Next Gen gezielt aus- und weiterzubilden. Denn eine wirklich spannende Frage lautet: Welche Profile mit welchen Skills wollen und benötigen wir in Zukunft?
Es wird weiterhin zahlreiche kalte Tage geben, auch wenn wir uns in einer stetigen Erwärmung befinden. So wird es Quartale, Semester oder gar Jahre mit Arbeitslosigkeit in der ICT geben, obwohl der Fachkräftebedarf steigt. Die ICT ist ein Arbeitsmarkt mit einzigartiger Querschnittsfunktion; sie ist das Rückgrat moderner Wertschöpfung und Innovation. Politik, Wirtschaft und Verwaltung sind gefordert, kreative Lösungen für Lehrstellen, Berufsbildungsfonds und Mobilität zu finden, weil herkömmliche Instrumente nicht ausreichen. ICT-Kompetenz gehört in jedes Unternehmen; jetzt und in Zukunft!
Marc Marthaler
Kolumnist Marc Marthaler ist seit November 2024 Geschäftsführer von ICT-Berufsbildung Schweiz. Zuvor war er in verschiedenen Führungspositionen im Bildungsumfeld tätig, zuletzt als Leiter der Berufsbildung Swisscom.