Nachdem ich in der letzten Kolumne über Regulierung gesprochen habe, möchte ich heute auf das Thema Risikokultur eingehen.
Im Gespräch mit Führungskräften und gestandenen IT-Profis wird mir immer wieder bewusst, wie viele Personen Zurückhaltung gegenüber Veränderung an den Tag legen. Während anderswo Machbarkeits- oder Pilotprojekte, die am Ende nicht in die Umsetzung gehen, von Unternehmen als notwendiger Aufwand auf dem Weg an die Spitze betrachtet werden, sind solche bei uns ein Makel, der Karrieren und Unternehmen belastet. Die Folge ist, dass zu viele gute Ideen nie ausprobiert werden, weil die Angst vor dem Scheitern grösser ist als die Lust auf den Erfolg.
Das ist schade, gerade in der IT-Branche, denn wer sich mit Technologie beschäftigt, weiss, dass Neues nur selten beim ersten Versuch funktioniert. Sys-Admins kennen die Realität von misslungenen Releases und schiefgelaufenen Migrationen. Aber ohne diese Risiken gäbe es keine Entwicklung. Jede stabile Infrastruktur von heute basiert auf dutzenden gescheiterten Versuchen von gestern (und Hand aufs Herz: Wer jemals ein Exchange-Update am Freitagnachmittag gefahren hat, weiss, dass Risikobereitschaft im IT-Alltag eigentlich Standard sein sollte).
Besonders spannend wird es, wenn wir auf das Zusammenspiel zwischen Start-ups und KMU schauen. IBM berichtete in einem Research Insight von 2022, dass Unternehmen, welche mit Start-ups zusammenarbeiten, 59 Prozent höhere Umsätze generieren als solche, die es nicht tun. Viele Schweizer KMU arbeiten seit Jahrzehnten erfolgreich in ihren Märkten. Sie sind solide, stabil und risikoavers – ein Erfolgsrezept in ruhigen Zeiten. Bei sich verändernden Spielregeln, zunehmendem Wettbewerb und schwierigen Kapitalmärkten sind aber effiziente und automatisierte Prozesse, neue Produktangebote und kreative Lösungen gefragt. KMU sollten von der Innovationsgeschwindigkeit und dem Mut von Start-ups profitieren, während Start-ups die Markterfahrung, Kundenzugänge und Qualitätsstandards der KMU nutzen. Der Nutzen ist dermassen gross, dass auch unser Staat bei der Zusammenarbeit unterstützt – ein Beispiel:
Förderinstrumente wie Innosuisse: Sie reduzieren die Hürde erheblich, indem sie einen Teil der Kosten für gemeinsame Innovationsprojekte übernehmen und das Risiko zwischen Start-up, KMU und Staat teilen. So können neue Ideen getestet werden, die normalerweise als zu riskant eingestuft werden. Eine solche Zusammenarbeit unterstützt nicht nur die KMU, sondern auch unsere heimische Forschung und Innovationskraft. Einer der wichtigsten Bestandteile unserer Wirtschaft.
Weitere Beispiele, die ich immer wieder gerne erwähne und die von jedem KMU umgesetzt werden könnten:
Proof of Concepts: Eine Führungskraft eines grossen US-Spitals hat mir vor Jahren von dessen PoC-Hub berichtet. Dabei wurden jährlich zwölf einwöchige Tests für neue Produkte und Prozessverbesserungen durchgeführt. Ein externer Partner koordinierte den Ablauf und suchte Start-ups sowie andere KMU mit passenden Lösungen. Das Projekt war schlank, jederzeit kündbar und ein voller Erfolg. Mitarbeitende begannen, eigene Vorschläge einzubringen, meldeten Prozesse mit Verbesserungspotenzial und veränderten ihre Haltung gegenüber Innovation spürbar.
Nähe zu Universitäten und Vereinen: Oft unterschätzt, aber sehr effektiv. Universitäten und Fachvereine freuen sich über jede Kontaktaufnahme von KMU. Sie beraten, zeigen Möglichkeiten auf und helfen, die ersten Schritte zu wagen.
Entscheidend ist nicht, welches oder ob eines dieser Modelle gewählt wird, sondern dass sich KMU überhaupt auf das Experiment einlassen. Für Europa – und besonders für die Tech-Branche – ist das kein weiches Kulturthema, sondern eine handfeste Standortfrage. Denn solange wir Innovation vermeiden, weil sie riskant ist, werden andere Regionen der Welt den Fortschritt bestimmen.
Matthias Herrmann
Matthias Herrmann ist Investor, Unternehmer und Berater in den Bereichen Innovation, IT und Gesundheitswesen. Er leitet den Bereich Digital Health und den Digital-Health-Fonds bei der Firma Tenity und ist als Experte für die Bereiche Life Sciences und ICT für die Innosuisse tätig. Er ist ausserdem Verwaltungsrat der NGO Make Me Smile International und unterstützt mehrere Start-ups im Advisory Board.