Swiss Made Software: Das Ende des Digitalen, mehr ­geht nicht
Quelle: Swiss Made Software

Swiss Made Software: Das Ende des Digitalen, mehr ­geht nicht

Wenn man ehrlich sein will, muss man festhalten: digital ist vorbei. Und niemand anderes als ­Google hat diese sich schon lang ankündigende Entwicklung in ein Fait accompli verwandelt. Herzlich willkommen 2024.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2024/01

     

Vielleicht ist es unfair, die Verantwortung allein Google in die Schuhe zu schieben; zahlreiche weitere Akteure werkeln schliesslich fleissig mit. Und auch das Ende des Digitalen ist nicht gleichzusetzen mit der Rückkehr in eine analoge Welt. Vielmehr ist es anzusehen als eine abnehmende Relevanz des Digitalen für Dinge von Bedeutung. Man könnte sagen: Peak Digital ist erreicht, mehr geht nicht. Was heisst das?

Vor Kurzem stellte Google seine neuesten Pixel-Telefone vor. Zentrales Feature ist die Implementierung von KI, wo immer es nur geht. Viel diskutiert wurden vor allem die neuen Möglichkeiten im Zusammenhang mit der Kamera (das wohl auch, weil die einzige bemerkbare Innovation im Smartphone-Bereich seit Jahren in der Verbesserung der Kamera liegt).


So ist es nun möglich, Bilder durch Tippen auf den Bildschirm grundlegend und täuschend echt zu verändern. Zum Beispiel die Funktion «Beste Aufnahme»: Man wählt ein Gruppenfoto und Googles KI sucht daraufhin nach ähnlichen Aufnahmen aus der gleichen Serie. So lassen sich die jeweils «besten» Gesichtsausdrücke in ein optimiertes Gruppenbild amalgamieren. Das neue Bild ist dann besser als jedes Foto – echt ist es aber nicht. Diesen einen Moment hat es nie gegeben.

Auch aus Landschaftsaufnahmen sollten sich so störende Passanten leicht entfernen lassen. Mit Hilfe des magischen Editors lassen sich auch freihändig Objekte im Bild markieren und anschliessend löschen. Perfekt funktioniert das noch nicht – zumindest nicht in jedem Fall. Die Technologie wird wohl aber schnell besser werden.

Deep Fakes für jeden

So werden Deep Fakes praktisch für jeden zugänglich und selbst wenn Google & Co. «Zensur-Features» einbauen, um die Erstellung von beispielsweise pornographischen Inhalten mit Stars, der Nachbarsfrau (oder -mann) oder Kindern zu verhindern, wird man diese Inhalte sehr leicht in den unterschiedlichsten Schattierungen des Internets finden können – und zwar, noch lange bevor man im Dark Web angekommen ist.

Was beim Foto jetzt schon in der Hosentasche steckt, dürfte für Video nicht lange auf sich warten lassen. Und was bei Video funktioniert, sollte im reinen Audio-Bereich eine Kleinigkeit sein.


Doch was bedeutet das für eine Gesellschaft, in der zunehmend zwischenmenschliche Kontakte digital mediiert werden? Woher weiss man noch, ob die Person am anderen Ende des Video-Calls oder des Telefonanrufs tatsächlich die Person ist, mit der man interagieren wollte?

Der reale Mensch wird dafür zusehends unnötig. Ein Beispiel: Mittlerweile lassen sich Bankkonto oder Handy-Vertrag online eröffnen und abschliessen. Dazu hält man den Ausweis und anschliessend das eigene Gesicht in die Kamera des Smartphones. Wird ein algorithmischer Match gefunden, kann man loslegen.

Für Kriminelle ist das interessant, weil sie zum Beispiel versuchen, die Gesichtszüge einer Person auf das Gesicht einer anderen zu mappen und somit Zugang zu deren Konto zu erhalten. Das funktioniert mittlerweile ganz gut, wie der Autor auf der Demo einer Schweizer Sicherheitsfirma sehen konnte, die wiederum ihr Geld (unter anderem) damit macht, Gegenmassnahmen für solche Szenarien zu entwickeln. Während der Live-Demo wurde dem Kopf des Vortragenden «au naturell» sein Kopf mit draufgemappten Gesichtszügen gegenübergestellt – alles in Echtzeit auf dem gleichen Screen.

Dem menschlichen Auge war hier durchaus klar, dass gemauschelt wurde. Das ist aber irrelevant, da kein Mensch zufriedengestellt werden muss. Ein Mensch ist für das Ganze Szenario sogar komplett unnötig. Es muss lediglich ein Algorithmus zufriedengestellt werden. Ein total verglitchtes Antlitz mag alle relevanten Bedingungen für die Freigabe eines Bankkontos erfüllen.

Somit wird der reale Mensch auf zwei Ebenen unwichtig: Er muss nicht mehr für ein Bild posieren, um drin zu sein, und man braucht ihn auch nicht in erkennbarer Form, um sein Bankkonto zu plündern.

Pictures or it didn’t happen

Vor wenigen Jahren verwendeten Jugendliche gern den Satz «Pictures or it didn’t happen». In unserer schönen neuen Welt entstehen immer mehr Fotos von Dingen, die nie existiert haben. Der Umstand, dass dies so einfach wird, dürfte das Vertrauen in das Digitale mehr und mehr erschüttern – zumindest, sobald es um wichtige Dinge geht. Paradoxerweise umso mehr, je besser die Technologie funktioniert. Zwei Beispiele:

- Werden wichtige Verträge nur noch auf Papier und in Anwesenheit von mehreren menschlichen Zeugen unterzeichnet werden?


- Kann man Videos, welche die Grausamkeit des Krieges zeigen, noch Beachtung schenken, wenn alle Konfliktparteien diese in beliebiger Menge (automatisiert) selbst herstellen können?

Solche Fragen erinnern etwas an die philosophische Überlegung «macht der fallende Baum ein Geräusch, wenn niemand da ist, es zu hören»?

An dieser Frage entzünden sich heute noch die Geister verschiedener philosophischer Schulen. Dabei reicht die Spanne von «die physikalischen Bedingungen sind immer erfüllt, es braucht aber ein Ohr, um daraus ein Geräusch zu machen» bis «alles, was man nicht hört, existiert nicht». Das ist intellektuell spannend – doch was heisst das für unseren Alltag?

Objektiv betrachtet fallen sicher überall auf der Welt Bäume, ob jemand in der Nähe ist oder nicht. Dabei ist das Geräusch vor allem wichtig, um rechtzeitig aus dem Weg zu gehen. Das Geräusch ist also relevant, wo der Mensch direkt betroffen ist.

Wenn also Dutzende von Bäumen fallen, sind vor allem die wichtig, die einen erschlagen können. Dafür muss man dem Signal, dem Geräusch, vertrauen können. Beginnt das Vertrauen in digitale Signale zu bröckeln, gerade weil sie die Realität täuschend echt nachahmen können, besteht die Möglichkeit, dass sich das Digitale selbst ad absurdum führt und möglicherweise zu einer Renaissance des Analogen beiträgt. Das wäre vielleicht das erste Mal, dass eine Technologie so gut geworden ist, dass man in gewissen Szenarien auf ihren Vorläufer zurückwechselt.


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