Mit Quanten rechnen, Chips sind out. Oder?
Quelle: Fujitsu

Mit Quanten rechnen, Chips sind out. Oder?

Quantencomputing: Wann wird der Hype Realität? Konzerne wie Google oder IBM melden Erfolge, fördern so die Zuversicht. Aber was ist von der Technologie in naher Zukunft zu erwarten? Wo stehen wir mit der Entwicklung?

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2021/12

     

Die Quantenphysik ist die Grundlage für zahlreiche Schlüsseltechnologien, die wir heute nutzen; wie Computer, Smartphones, Navigationsgeräte oder Fernseher. Was aber ist dann eigentlich der Unterschied zwischen herkömmlichen und Quantencomputern? Unsere aktuellen Chip-Technologien, unsere Halbleiter und Mikro­strukturen arbeiten auf Basis ausgewählter quantenmechanischer Effekte. Die damit ausgestatteten Rechner funktionieren aber nach dem klassischen binären Prinzip. Sie nutzen nur bestimmte Effekte der Quantenmechanik – ohne sich dabei selbst in einem Quantenzustand zu befinden oder Phänomene der Quantenphysik methodisch umzusetzen.


Quantencomputer dagegen arbeiten ausschliesslich quantenmechanisch. Das ist eine ganz andere Art von Funktionalität, Rechnen und Logik; mit völlig neuen Regeln und mit einer komplett anderen Form von Programmierung. Quantenrechner haben viel mehr Rechenleistung, der Quantenzustand bietet nach heutigem menschlichem Ermessen unendlich mehr Möglichkeiten. Ein funktionierender Quantenrechner wäre mit seiner Kapazität mühelos in der Lage, für klassische Rechner praktisch unlösbare Aufgaben schnell zu erledigen.

Superposition und Verschränkung

Statt mit herkömmlichen Bits arbeiten Quantencomputer mit Qubits. Ein Bit hat, ähnlich einem Lichtschalter, nur zwei Zustände: «0» oder «1» beziehungsweise «an» oder «aus». Ein Qubit dagegen kann unter den richtigen Bedingungen gleichzeitig die Zustände «0» sowie «1» annehmen und sogar auch alle Zustände dazwischen. Diese Überlagerung von Zuständen nennen Physiker Superposition. Das ist eine Grundlage für die potenziell enormen Rechenkapazitäten von Quantenrechnern. Denn mit jedem zusätzlichen Qubit wachsen die Möglichkeiten für Interaktionen zwischen den Qubits exponentiell – praktisch explodiert die Rechenleistung.


Die Verschränkung von Qubits ist ein weiteres Phänomen. Vereinfacht ausgedrückt: Sie bilden einen Verbund. Wenn das passiert, synchronisieren verschränkte Qubits ihr Verhalten. Dabei geht es nicht um Angleichung des Zustandes. Verändert ein verschränktes Qubit seinen Zustand, tun das auf ihre eigene Art auch alle anderen Qubits – augenblicklich. Das ist ein Prozess, der für klassische Computer unmöglich ist.

Verschiedene Technologien und Ansätze

Quantengattersysteme sind das, was man gemeinhin unter Quantencomputern versteht. Sie sind die aus heutiger Sicht ultimativen Maschinen, universell und für alle Aufgaben geeignet. Superposition, Interferenz, Verschränkung, Quantentunneling – Wissenschaftler kennen zwar die quantenmechanischen Grundlagen, kämpfen aber mit den praktischen Problemen.

Die Methode ist in mehrfacher Hinsicht unausgereift, beispielsweise weil die meisten Quantenalgorithmen noch unbekannt sind – aktuell gibt es nur etwa 100 bekannte davon. Heutige Quantengattersysteme können zudem beim Rechnen den gewünschten Quantenzustand nicht lange halten. Aktuell sind wir bei Nano- bis Mikrosekunden. Potenziale für komplexe Berechnungen können damit nicht ausgeschöpft werden.


Eine Herausforderung sind auch quantenmechanisch bedingte Quantenfehler und das Quantenrauschen, die stabile Quantenzustände stören. Hinzu kommt der extrem aufwändige Betrieb: Quantengattersysteme brauchen aktuell etwa -273 Grad Celsius Umgebungstemperatur. Das ist in unserer Welt der absolute Temperatur-Nullpunkt. Entsprechende Anlagen werden deshalb in besonders geschützten Laboren betrieben. Ein quasi abgespeckter Typ des Quantencomputers sind die An­nealer, auch adiabatische Quantenrechner genannt. Es sind echte Quantenrechner, die aber ausschliesslich Optimierungsprobleme lösen können. Sie arbeiten aktuell schon mit bis zu 5000 Qubits. Quantenrauschen ist bei diesem Ansatz kaum ein Problem. Die Annealer bieten heute schon die Möglichkeit, fast alle relevanten Probleme der Industrie zu lösen. Denn diese können mathematisch fast immer als Optimierungsaufgabe formuliert werden. Gegenüber Quantengattersystemen haben Annealer den Vorteil, dass sie kommerziell einsatzbereit sind.

Es gibt auch Simulatoren. Das sind Programme, die auf klassischen Rechnern laufen und die Quantenmechanik abbilden beziehungsweise nachstellen. Etwa 20 Qubits kann solch eine Software bereits simulieren; was beispielsweise den gängigen Quantenrechnern von IBM oder Google entspricht. Dabei sind die simulierten Qubits der Software nicht fehlerbehaftet. Diese Simulationslösungen sind für den praktischen Einsatz allerdings kaum geeignet – sehr wohl aber für das Erlernen der Handhabung und Programmierung von Quantenrechnern.

Dann gibt es noch die Quantenemulatoren. Das sind Rechner, die quantenmechanische Effekte nicht exakt abbilden, sondern nachstellen – oder besser: nachahmen und ausnutzen. Diese Emulatoren produzieren sofort nützliche Ergebnisse. Ihre Leistung ist erstaunlich stark. Bei Fujitsu heisst dieser Emulator Digital Annealer, Microsoft hat ein ähnliches Angebot. Digital Annealing funktioniert zuverlässig, ist industriell im Einsatz und üblicherweise als Service verfügbar.

Im Fokus: kombinatorische Optimierung

Wer also Quantenforschung betreibt, interessiert sich für Quantengattersysteme. Wer heute praktische Berechnungen zur Optimierung der Industrie durchführen will, der nimmt einen Digital Annealer. Das Digital Annealing ist eine Brückentechnologie hin zum Quantencomputing auf Basis konventioneller Silizium-­Halbleiter. Kombinatorische Optimierung ist die Ermittlung einer optimalen Lösung in einem definierten Suchraum – einem Raum, der mit zunehmender Grösse der Aufgabe exponentiell wächst. Ein Beispiel ist das Problem des Handelsreisenden, der seine Kunden besuchen will. Seine zu definierende Route soll an x verschiedenen Orten vorbeiführen. Jeder Ort soll genau einmal besucht werden und die Route an ihrem Anfangsort enden. Die Bedingung: Der Gesamtweg muss so gering wie möglich sein. Um die Problematik anhand von Zahlen zu verdeutlichen: Bei fünf Orten gibt es 24 Möglichkeiten, bei zehn Orten bereits 3ʼ628ʼ800 Möglichkeiten!


Für solche Berechnungen emuliert der Digital Annealer die quantentypische Superposition. Einerseits «durchquert» das System iterativ den Suchraum. Andererseits wird aber auch jeder Schritt mit einer parallelen Prüfung aller möglichen Einzelentscheidungen verbunden. Unter anderem auf diese Art und Weise kommt ein Digital Annealer dem Leistungsspektrum des Quantencomputings vergleichsweise nahe.

Quanteninspirierte Technologie in der Praxis

In der Praxis wird die kombinatorische Optimierung via Digital Annealer schon vielfach eingesetzt. Im Rahmen eines Proof of Concept ging es der Deutschen Bahn darum, die Routen und Taktfrequenzen von Güterzügen zu optimieren. Bei etwa 700ʼ000 Zugtrassen erfordert dies Optimierungsberechnungen mit einem hohen Komplexitätsgrad. Ein herkömmlicher Hochleistungsrechner bräuchte dafür etwa zwei Stunden, Digital Annealing vier Minuten. Wichtig ist auch die um rund zehn Prozent höhere Genauigkeit des quanteninspirierten Systems. Dadurch ist es möglich, mehr Güterzüge auf die Strecke zu bringen.

Vor einer ähnlichen Herausforderung stand die Hamburg Port Authority (HPA). Sie optimierte mittels Digital Annealing die Verkehrssteuerung im Hamburger Hafen. Ziel war, dass auch beim Löschen grosser Containerschiffe der Abtransport der Container per Lkw so reibungslos wie möglich erfolgt. Dies liess sich mit einer intelligenten Ampelsteuerung in Echtzeit erreichen, die zahlreiche aktuelle Informationen berücksichtigt. Dazu zählen etwa die Verkehrslage, die Art und Zahl der Fahrzeuge sowie deren Geschwindigkeit und Fahrstrecken.


BMW wiederum hat das Digital Annealing eingesetzt, um die Bewegungen von Roboterarmen bei der Schweissnahtversiegelung zu optimieren. Mehrere Roboter arbeiten dabei parallel an einem Fahrzeug. Um den Vorgang zu beschleunigen, liess der Autohersteller 1,8 x 10106 Varianten der Bewegungsabläufe analysieren, die beim Versiegeln von 64 Nähten anfallen. Das Ergebnis: Die Bewegungen der Roboterarme konnten um bis zu 40 Prozent reduziert werden. Die Berechnung dauerte ausserdem nur etwa eine halbe Minute und war damit rund 17ʼ000-fach schneller als mit einem herkömmlichen IT-System.

Ein weiteres Einsatzfeld ist der Finanzsektor. So hat Main Incubator, die F&E-Sparte der Commerzbank, ein Proof-of-Concept-­Projekt im Bereich Kreditportfolio-Management durchgeführt. Der Einsatz von Digital Annealing ermöglichte es, Forderungen aus Leasing-Verträgen besser zu bündeln und so das Liquiditätsmanagement zu verbessern.

Auch in der Pharmaforschung wird Digital Annealing eingesetzt. Die Entwicklung von Wirkstoffen ist ein langwieriger, kostenintensiver Prozess. Eine Vielzahl von Stoffen muss getestet, unzählige Moleküle müssen aufwendig entsprechenden Laboruntersuchungen unterzogen werden: zu viele, um dies in einem vertretbaren konventionellen Rahmen effizient zu schaffen. Digital Annealing kann das Auffinden geeigneter Kombinationen entscheidend beschleunigen und sogar mit einem Score versehen. In Verbindung mit einer entsprechenden Datenbank konnte der Pharmakonzern Polarisqb in weniger als einer Sekunde QUBOs (Quadratic Unconstrained Binary Optimizations) finden und mit einem Score versehen. Der vorher ein Jahr dauernde Gesamtprozess konnte so auf wenige Monate reduziert werden.

Viel Forschung nötig

Bis funktionierende und kommerziell vernünftig einsetzbare Quantengattersysteme verfügbar sind, ist noch viel Forschung und Entwicklung nötig. Optimisten rechnen mit fünf bis zehn Jahren. Die oben genannten Beispiele aber zeigen: Mit Digital Annealing ist bereits heute substanzielle Prozessoptimierung möglich. Die Nutzung von Quanten-Computing-Effekten ist keine Science-Fiction.

Der Autor

Joseph Reger ist Fujitsu Fellow & Chief Technology Officer Central & Eastern Europe.


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