Die Kunst kollektiven (Ver-)Lernens
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Die Kunst kollektiven (Ver-)Lernens

Von Georg Kraus

Je grösser der Veränderungsbedarf in Unternehmen ist, umso grösser ist auch der individuelle und kollektive Lernbedarf. Diesen Prozess des gezielten Kompetenzauf- und -ausbaus gilt es nachhaltig zu befeuern.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2019/09

     

Unternehmen benötigen viele Kompetenzen, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Mit ihrem Auf- und Ausbau sind zahlreiche Lernprozesse verbunden – auf der individuellen und organisationalen Ebene. Und damit einher gehen stets auch Prozesse des individuellen und organisationalen Verlernens – sei es, weil gewisse Aufgaben nicht mehr, seltener oder anders als bisher erledigt werden.

Beim Verlernen gilt es zwischen erwünschten und unerwünschten Verlernprozessen zu unterscheiden. Wie rasch ein Verlernen erfolgt, weiss jeder, der schon mal eine PC-Schulung besuchte. Versucht man wenige Tage später dieselben Aufgaben zu lösen, die man gegen Ende der Schulung beherrschte, stellt man oft erschreckt fest: "Ups, ich weiss ja gar nicht mehr, wie das geht." Ähnlich verhält es sich bei Aufgaben, die man tatsächlich beherrschte, für eine lange Zeit aber nicht mehr ausgeübt hat.

Kompetenzen entstehen... und verschwinden

Ähnliche Prozesse finden auf der organisationalen Ebene von Unternehmen statt. Auch in ihnen verschwinden ungewollt immer wieder Kompetenzen, in denen sie ehemals exzellent und deshalb zum Beispiel für Kunden attraktiver Partner waren. So klagte zum Beispiel der CEO eines High-tech-Konzerns vor einiger Zeit: "Ich verstehe nicht, warum unsere Projekte im Bereich Anlagenbau heute fast alle scheitern. Vor drei, vier Jahren waren wir darin noch spitze. Und heute hat man oft den Eindruck, wir hätten in der Vergangenheit nur mit Lego-Steinen gespielt." Die Ursachen für solche Entwicklungen – sei es im Bereich Projekt- oder Innovationsmanagement, Führung oder Vertrieb, Kundenorientierung oder Service oder allgemein Problemlösung und Strategieumsetzung – sind vielfältig. Eine zentrale ist: Viele Unternehmensführer betrachten die Ausgaben in den Bereichen Aus- und Weiterbildung sowie Personal- und Kompetenzentwicklung als Investitionen. Das sind sie betriebswirtschaftlich gesehen auch. Sie haben jedoch einen anderen Charakter als Sach­investitionen.

Kompetenz ist kein Haben-Posten in der Bilanz

Kauft ein Unternehmen benötigte Maschinen oder Gebäude, dann kann es diese auf der Haben-Seite verbuchen. Anders ist es, wenn ein Unternehmen Mitarbeitende zum Beispiel im Bereich Führung, Projektmanagement oder Marktbearbeitung schult. Dann ist die Sache damit nicht erledigt. Denn das Unternehmen hat sozusagen nur ein Feuer entfacht. Dafür, dass es weiter lodert und die gewünschte Wärme entfaltet, müssen bildhaft gesprochen regelmässig Holzscheite nachgelegt werden. Sonst ist das Feuer ein Strohfeuer, das bald wieder erlischt – und alle bisherigen Investitionen an Zeit und Geld waren vergebens.


Dieses Nachlegen im Bereich Personal- und Kompetenzentwicklung ist auch aus folgendem Grund nötig: In jedem grös­seren Unternehmen findet neben einer gewissen Job-Rotation auch ein permanenter Personalwechsel statt. Mitarbeitende kommen und gehen. Deshalb ist es, selbst wenn ein Unternehmen seine Mitarbeitenden beispielsweise intensiv im Bereich Führung und Projekt-Management schulte, nicht garantiert, dass zwei, drei Jahre später noch alle Mitarbeitenden dasselbe Führungs- und Projekt-Management-Verständnis (und -Know-how) haben. Ein solches Alignment, also mentales Commitment, bleibt nur bestehen, wenn das Unternehmen konsequent alle Mitarbeitenden, die eine entsprechende Position oder Funktion neu übernehmen, schult.

Nicht das Wissen, das Können und Tun entscheiden

Weit entscheidender dafür, dass dieses Alignment in Betrieben oft nicht be- und entsteht, ist jedoch: Sie berücksichtigen bei ihrer Personalentwicklung nicht ausreichend, dass Wissen noch lange nicht Können und Können noch lange nicht Tun bedeutet. Damit das Wissen in Können und dieses wiederum in ein Tun umschlägt, sind ein regelmässiges Erinnern und systematisches Einüben im Betriebs- und Arbeitsalltag nötig.

Das Unternehmen Toyota hat dies erkannt. Deshalb spielt in seiner Personalentwicklung das Kata Coaching eine zentrale Rolle. Dieses zielt darauf ab, vorhandene Denk- und Verhaltensroutinen zu verlernen und neue zu erlernen. Dahinter steckt die Erkenntnis: Viele Abläufe und Prozesse in Unternehmen sind eine Konsequenz der Gewohnheiten, die sich deren Mitarbeitenden im Verlauf vieler Jahre angeeignet haben. Entsprechend selbstverständlich werden sie ausgeführt.


Solche Routinen genannten Denk- und Verhaltensgewohnheiten sind nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Personen und Organisationen benötigen sie, um ihren Alltag zu meistern. Denn sonst würden sie endlos viel Zeit und Energie auf solche Alltagstätigkeiten wie das Zähneputzen oder die Materialbeschaffung verwenden. Zum Problem werden Routinen erst, wenn die damit verbundene Art, Aufgaben zu lösen, auch beibehalten wird, wenn aufgrund veränderter Rahmenbedingungen ein anderes Vorgehen nötig oder zielführender wäre. Dann werden die Routinen zu einem Hemmschuh für die Entwicklung, weshalb sie zu durchbrechen und durch neue zu ersetzen sind.

Denk- und Verhaltensroutinen durchbrechen

Routinen sind das Ergebnis eines längeren Prozesses des fortlaufenden Wiederholens und (Ein-)Übens. In der musikalischen Erziehung, also beispielsweise beim Erlernen des Klavierspielens, ist dieses permanente Üben gang und gäbe. Ebenso im Sport. Turner trainieren gewisse Bewegungsabläufe so lange, bis sie diese verinnerlicht haben. Danach wenden sie sich schwierigeren Übungen zu, sodass ihr Können sukzessiv steigt. Doch nicht nur dieses! Durch das regelmässige Üben und Reflektieren, was wie noch besser gemacht werden kann, erwerben (angehende) Profisportler und Berufsmusiker zunehmend die Kompetenz, eigenständig ihre Leistung zu steigern. Sie werden sozusagen zum Coach ihrer eigenen Person.


Genau dieses bewusste Einüben von Routinen ist das Ziel des Kata Coaching. Und eine Kernaufgabe der Toyota-Führungskräfte ist es, ihre Mitarbeitenden als Coach in diesem Prozess zu unterstützen und zu begleiten. Das heisst: Sie geben ihnen beispielsweise bei neuen Aufgaben nicht die Lösung vor. Sie leiten ihre Mitarbeitenden vielmehr bei deren Suche und Entwicklung an – mit dem übergeordneten Ziel, dass ihre Mitarbeitenden selbst die hierfür erforderliche Kompetenz erwerben. Durch diesen sukzessiven Ausbau ihrer (Problemlöse-)Kompetenz sollen die Mitarbeitenden auch das nötige Selbstvertrauen erwerben, um stets grössere oder komplexere Herausforderungen eigeninitiativ anzugehen.

Sich dem Idealbild Schritt für Schritt nähern

Um diese Kompetenz bei Menschen systematisch zu entwickeln, sind drei Dinge nötig: Die betreffende Person muss wissen, welches übergeordnete Ziel sie erreichen möchte. Sie benötigt eine Vision, wohin sie sich entwickeln möchte. Darüber hinaus muss sie wissen, was sie lernen sollte, um das angestrebte Ziel zu erreichen – also was ihre Lernfelder sind. Und: Sie muss einen Weg oder eine Methode kennen, um sich die noch fehlende Kompetenz anzueignen.

Genau diese drei Elemente findet man denn auch in der Toyota-Kata, also dem systematisierten Verfahren, das Toyota zum Auf- und Ausbau neuer Kompetenzen und Verankern neuer Routinen in den Köpfen der Mitarbeitenden und in der Organisation entwickelt hat.


Über allem schwebt die Nordstern genannte Vision von Toyota – das angestrebte Idealbild. Hieraus leitet sich die sogenannte Verbesserungs-Kata ab, mit deren Hilfe Toyota erreichen möchte, dass sich die Prozesse dem Idealzustand annähern. Und ihr zur Seite steht die Coaching-Kata, mit deren Hilfe Toyota die (Problemlöse-)Kompetenz seiner Mitarbeitenden systematisch ausbaut – in vielen kleinen Schritten und Projekten, die alle in Richtung Idealbild gehen.Das beschriebene Coaching-Verfahren und Verfahren zur Kompetenzentwicklung praktiziert Toyota seit Jahrzehnten – unter anderem mit dem Ziel, die bereits vorhandene Kultur der kontinuierlichen Verbesserung noch stärker in der DNA der Mitarbeitenden und der Organisation zu verankern. Dahinter steckt die Erkenntnis: Der Change- und somit Lernbedarf in den Unternehmen ist heute oft so gross und vielschichtig, dass er immer schwieriger top-down erfasst und gemanagt werden kann. Also müssen sich die Mitarbeitenden in Richtung Selbstentwickler entwickeln, die selbst erkennen, was es aufgrund des angestrebten Ideal-­Zustands zu tun gilt, wo bei ihnen noch ein Entwicklungsbedarf besteht und wie sie diesen selbst befriedigen können.

Führungskräfte sind Vorbilder auch beim (Ver-)Lernen

Der Aufbau einer solchen Kultur eines gezielten individuellen und kollektiven Lernens (und Verlernens) erfordert Zeit, Geduld und Liebe zum Detail; ausserdem Top-down-Führungskräfte, die sich auch als Coach und Lernbegleiter ihrer Mitarbeitenden verstehen und sich intensiv mit den Mitarbeitenden und den (Lern- und Entwicklungs-)Prozessen in ihrer Organisation befassen.

Die Führungskräfte müssen zudem ihr Handeln regelmässig reflektieren. Sonst besteht die Gefahr, dass sie zwar von ihren Mitarbeitenden eine hohe Lern- und Veränderungsbereitschaft fordern, in ihrem eigenen Verhalten dieser Anspruch aber nicht erfahrbar ist. Dann trägt ihr Mitarbeitenden-Coaching keine Früchte, denn nach wie vor gilt: Führungskräfte haben eine Vorbildfunktion für ihre Mitarbeitenden – auch bezüglich der Bereitschaft, bei Bedarf die eigenen Einstellungen und das eigene Verhalten zu verändern.

Der Autor

Georg Kraus ist Inhaber der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal (www.kraus-und-partner.de). Er ist Autor mehrerer Change- und Projekt-Management-Bücher, hat eine Professur an der Technischen Universität Clausthal und ist Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe und der IAE in Aix-en-provence.


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