CorelDraw 11: Keine Revolution
Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/34
Knapp zwei Jahre hat sich die kanadische Software-Schmiede Corel Zeit gelassen, um die Grafiksuite CorelDraw, ihr bekanntestes Produkt, mit der Version 11 auf den neuesten Stand zu bringen. Gegenüber dem früheren, rund einjährigen Erneuerungszyklus ist das eine relativ lange Frist - und weckt entsprechende Erwartungen: Das letzte Mal hat sich Corel so viel Zeit für die Version 9 genommen, die durch eine komplett überarbeitete Oberfläche und zahlreiche arbeitserleichternde Neuerungen wie etwa die Andockfenster zu überzeugen wusste.
Um es gleich vorwegzunehmen: Derart revolutionäre Features vermag die überarbeitete Suite nicht zu bieten. Das jüngste Update folgt eher einem evolutionären Ansatz - gemäss Corel sind die neuen Funktionen und Erweiterungen in enger Zusammenarbeit mit den Kunden entstanden, so dass die Anforderungen und Bedürfnisse professioneller Grafiker noch besser berücksichtigt werden konnten.
Wie schon in der letzten Ausgabe besteht die Corel-Grafiksuite aus drei Hauptkomponenten: dem namensgebenden Draw für den Umgang mit Vektorgrafiken, dem Photoshop-Konkurrenten PhotoPaint für die Bearbeitung von Pixelbildern sowie dem Flash-Klon Corel Rave, der die Versionsnummer 2.0 trägt.
Neben diesen Hauptprogrammen kommt die Suite wie gewohnt mit einer Menge mehr oder weniger nützlicher Beigaben. Dazu zählen beispielsweise Corel Trace für die Umwandlung von Bitmaps in Vektorbilder, das Screenshot-Tool Corel Capture, der Bitstream Font Navigator sowie als Scriptsprache Microsofts Visual Basic for Applications in der Version 6.3. Ergänzt wird der Lieferumfang durch rund 10'000 professionelle Clipart-Bilder, 1400 lizenzfreie Fotos in zwei unterschiedlichen Qualitätsstufen sowie 1000 Schriftarten in den Variationen TrueType und Type 1.
Ausserdem kommt das Paket mit der OCR-Software OmniPage SE von Scansoft - wobei sich hier die Frage stellt, ob ein ambitionierter Anwender oder ein professioneller Grafiker eine derartige Software in einem Grafikpaket überhaupt brauchen kann. Das Archivierungstool Canto Cumulus, das noch in der letzten Version ein Bestandteil der Suite war, schien diesbezüglich adäquater.
Eine wirklich sinnvolle Neuerung gibt es dagegen von der Handbuch-Front zu vermelden: Erstmals in der über 15jährigen Geschichte von CorelDraw kommt das Clipart- und Fontverzeichnis nicht mehr gebunden, sondern mit Spiralheftung. Das erleichtert nicht nur das Blättern und die Suche nach geeigneten Vorlagen und Schriften, sondern verlängert auch die Lebensdauer des umfangreichen Druckwerks deutlich.
Eines der wesentlichen neuen Features in Draw ist die Unterstützung für sogenannte Symbole. Dabei handelt es sich im wesentlichen um fertig kreierte Objekte, die in einer speziellen Bibliothek gespeichert werden und bei Bedarf beliebig oft wiederverwendet werden können. Das beschleunigt nicht nur den Gestaltungsprozess, sondern reduziert insbesondere auch die resultierende Dateigrösse. Unterstützt werden die Symbole unter anderem auch beim Export nach SWF (Flash), SVG (Scalable Vector Graphics) und PDF (Portable Document Format). Verwaltet und verändert werden die Symbole in einer neuen Bibliothek-Dockingleiste; dort vorgenommene Änderungen werden sofort auf sämtliche im Dokument enthaltenen Symbole angewandt. Allerdings lässt sich eine so erstellte Symbolbibliothek nur jeweils mit einem einzigen Dokument verwenden.
Zwei neue Pinsel hat die Werkzeugpalette von Draw erhalten, die sich beide bei der Pfadbearbeitung einsetzen lassen: Der "Verwischen"-Pinsel ermöglicht dabei ein Verwischen von Konturen, ohne gleichzeitig Strukturen oder Verläufe der Objektfüllung zu verzerren. Der "Aufrauen"-Pinsel dagegen erzeugt aus glatten Konturen Zickzacklinien, ebenfalls ohne Einfluss auf die Füllung. Beide Werkzeuge sind drucksensitiv und lassen sich so problemlos mit Tabletts einsetzen.
Auch das Freihand-Werkzeug hat Erweiterungen erhalten, darunter das sogenannte Polyline-Tool, das sich insbesondere bei komplexen Objekten bewährt. Das Tool ermöglicht das Zeichnen von Geraden und Kurven in einem einzigen Strich.
Weitere Werkzeug-Neuerungen sind die "3-Punkt-Tools", die für Ellipsen, Rechtecke und Kurven zur Verfügung stehen und akkurate Ergebnisse ermöglichen. Mit nur zwei Klicks lassen sich die Formen erstellen, indem zuerst die Mittel- oder Grundlinie ausgezogen und darauf mit dem zweiten Klick die Höhe des Objekts definiert wird.
Verbessert wurde auch der Umgang mit Texten in Draw: Neu unterstützt das Programm auf Wunsch die Übernahme von Text mitsamt Formatierungen per Copy&Paste aus allen gängigen Textverarbeitungsprogrammen. Ausserdem lassen sich jetzt auch Mengentexte an Kurven anpassen.
Neben diesen Hauptneuerungen finden sich in CorelDraw zahlreiche kleine Erweiterungen, etwa beim Ausrichten von Formen und Objekten, bei den Abschlüssen von Liniensegmenten oder beim Dateisupport.
Auffällig an PhotoPaint ist auf den ersten Blick die überarbeitete, weiter an Photoshop angeglichene Oberfläche: Vorder- und Hintergrundfarbe sind nun an derselben Stelle wie bei der Konkurrenz plaziert, und auch die Toolbox wurde angepasst. Des weiteren wurde die kontextsensitive Eigenschaften-Leiste vereinfacht.
Auch eine andere Idee hat Corel von Adobe abgekupfert: Das neue Ausschnitt-Tool zum Maskieren von komplexen Objekten funktioniert seinem Photoshop-Pendant zum Verwechseln ähnlich. Es reicht, das freizustellende Objekt mit einer Linie einzurahmen und danach zu füllen, den Rest erledigt das Programm selbständig. Die Resultate vermögen dabei meist auch bei komplexen Sujets wie Haaren oder Federn zu überzeugen. Dank der frei einstellbaren Stärke des Auswahlpinsels sowie der sofortigen Vorschaumöglichkeit arbeitet das Tool besser und ist noch einfacher in der Anwendung als Adobes Lösung. Offenbar hat Corel bei der Entwicklung auch auf Erfahrungen mit dem hauseigenen Freistell-Spezialisten "Knock-out" zurückgegriffen.
Ebenfalls neu ist ein spezielles Tool zum Entfernen roter Augen von Porträt-Aufnahmen. Das Tool arbeitet wie ein Pinsel und lässt sich über Grössen- und Toleranz-Parameter einstellen. Fährt man damit über die roten Augen, werden die Sättigungswerte für die Farbe Rot reduziert, während die anderen Farben unberührt bleiben. Das funktioniert zwar schnell und einfach, zeitigt allerdings selten die erwarteten Resultate. Für den professionellen Einsatz ist das Tool kaum brauchbar.
Mehrere Neuerungen gibt es beim Umgang mit Grafiken für das Internet. So unterstützt PhotoPaint erstmals Image Slicing, das ein grosses Bild für den Gebrauch im Internet in mehrere kleinere Teile aufsplittet. Ebenfalls neu ist die Möglichkeit, sogenannte Rollover-Buttons zu kreieren, die ihr Aussehen ändern, wenn der Websurfer mit der Maus darüberfährt. Dazu kommt ein Tool, das Bilder beim Speichern fürs Internet optimiert.
Des weiteren ist PhotoPaint um zwei starke Effekt-Filter ergänzt worden, die aus dem von Corel akquirierten Picture Publisher 10 stammen. Der Spotfilter simuliert die Tiefenschärfe eines Fotos, wobei unter anderem der Radius des Effekts und allfälliger Lichtabfall eingestellt werden können. Der Filter für Lichtreflexionen dagegen simuliert - ebenfalls mit verschiedenen Einstellmöglichkeiten - den Lichteinfall in ein Objektiv mit den daraus resultierenden Blendenflecken. Erweitert und mit verschiedenen neuen Optionen versehen wurden auch der Filter für Beleuchtungseffekte sowie derjenige zur Entfernung von Staub und Kratzern. Wie die meisten der PhotoPaint-Filter bieten auch die obgenannten eine Live-Vorschau.
Nicht zuletzt unterstützt jetzt auch PhotoPaint die von den meisten Digitalkameras erzeugten EXIF-Daten, die in JPEG- und TIFF-Dateien gespeichert werden können. Die Unterstützung für IPCT dagegen, wie sie von professionellen Fotografen benötigt wird, fehlt.
Die Oberfläche von Rave 2.0 wurde runderneuert und ist nun fast identisch mit derjenigen von Draw, was die Anwendung des Programms für erfahrene User der Corel-Suite deutlich vereinfacht. Es stehen auch dieselben Zeichen- und Bearbeitungstools zur Verfügung.
Mit den Symbolen entspricht die Hauptneuerung in Rave ebenfalls derjenigen in Draw; allerdings geht die Funktionalität noch etwas weiter: Rave bietet auch sogenannte Sprites, Symbole, die mit einer Timeline verknüpft sind (und das unabhängig von der Hauptzeitachse).
Neue Verhaltensweisen ermöglichen den Einbau von interaktiven Elementen in Rave-Animationen, verschiedene Verbesserungen beim Export ins Flash-Format erlauben ausserdem kleinere Dateigrössen.
Bei der Erstellung von Rave-Animationen stehen nun verbesserte Werkzeuge für 3D-Objekte zur Verfügung, die insbesondere realistischere 3D-Rotationen ermöglichen. Und nicht zuletzt ist es nun möglich, Texte mit Pfaden zu verknüpfen und so komplex animierte Schriftzüge zu gestalten.
Änderungen und Verbesserungen gab es aber nicht nur in den Hauptanwendungen, sondern auch über die ganze Grafiksuite hinweg. So unterstützt CorelDraw nun die von Microsofts Office bekannte MSI-Installation, was die Installation, Verwaltung und Vorkonfiguration durch Administratoren vereinfacht.
Verschiedene Erweiterungen hat auch das Farb-Management erhalten. Neben verschiedenen vordefinierten Stilen (beispielsweise fürs Web oder für professionellen Output) bietet die Suite Unterstützung für in Grafikformate eingebettete Farbprofile und zahlreiche Optionen, wie mit diesen umgegangen werden soll, neue Pantone-Farbpaletten sowie Update-Möglichkeiten für alle integrierten Profile. Ausserdem können auch benutzerdefinierte Profile erstellt werden.
Weiter verbessert wurde die Integration zwischen den einzelnen Suite-Bestandteilen, die nun über noch ähnlichere Werkzeugpaletten und Oberflächen verfügen und den Datenaustausch praktisch nahtlos machen. Die Arbeitsoberfläche kann zudem weitgehend den eigenen Bedürfnissen angepasst werden.
Nicht zuletzt wurde auch die Kompatibilität mit anderen Programmen verbessert - CorelDraw 11 verfügt nun über mehr als 100 Import- und Exportfilter, darunter neue Filter für JPEG 2000, Flash, SVG und PDF, was den Datenaustausch mit einer Vielzahl von Drittapplikationen ermöglicht. Einige Filter wie beispielsweise derjenige für das Photoshop-Format wurden weiter verbessert, sodass nun beim Austausch von Daten zwischen Photoshop und PhotoPaint nicht nur Layer, sondern auch transparente Hintergründe erhalten bleiben.
Insgesamt fehlen der Grafiksuite von Corel in der neuen Version zwar wirklich revolutionäre Neuerungen, im Alltag aber bewähren sich die verschiedenen kleinen Ergänzungen und Verbesserungen. Ein zwingendes Update ist CorelDraw 11 für die meisten Anwender wohl trotzdem nicht.