Editorial

Die Weltbibliothek wird digital, vielleicht...


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/18

     

So etwas wie in Alexandria (etwa 48 vor Christi, die grösste Bibliothek der Antike brennt ab) oder Weimar (2004, die Anna-Amalie-Bibliothek brennt ab) kann zwar auch in Zukunft jederzeit passieren. Aber es soll nicht mehr die gleichen verheerenden Folgen haben. Dank Digitalisierung soll selbst bei der Zerstörung einer Bibliothek ein Abbild der teils unersetzlichen Kulturgüter erhalten bleiben.
So will es die EU-Kommission. Sie führt derzeit eine Vernehmlassung durch und will Empfehlungen ausarbeiten, wie das europäische Kulturerbe am besten digital zu erhalten sei. Die Aufgabe ist titanisch: Es geht immerhin um zweieinhalb Milliarden Bücher und Zeitschriften, die in den Bibliotheken liegen; dazu kommen etliche Millionen Stunden an Film- und Videoproduktionen in den Archiven der Fernsehanstalten.





Der schiere Umfang ist aber nicht das einzige Problem. Viel schlimmer sind die Urheberrechte: In der EU erlischt der Schutz eines literarischen Werks erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers – nur ältere Werke, die vor 1930 entstanden sind, können somit frei der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Das per Digitalisierung zu erhaltene «kollektive Gedächtnis», das die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding als Basis für die angezielte europäische Wissensgesellschaft voraussetzt, würde sich so auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg beschränken. Die Content-Industrie dürfte sich kaum dazu herablassen, neuere Inhalte gratis der Öffentlichkeit preiszugeben – man versucht eher, auch aus längst vielfach amortisierten Werken bis zum bitteren Ende den letzten Cent herauszupressen; Beispiele sind
Re-Editionen alter Filme, Sammelausgaben oder Sonderpublikationen von Einzel- oder Gesamtwerken zu jedem erdenklichen Anlass vom Geburts- bis zum Todestag von Autoren, Regisseuren, Künstlern und anderen Kulturtätern.
Auf das Urheberrechts-Hindernis sind auch Google und Yahoo gestossen, die sich zwecks Erweiterung ihres Geschäftsfelds und Verstärkung ihrer Indizes ebenfalls der Bücherdigitalisierung verschrieben haben. Die beiden Erzkonkurrenten gehen dabei höchst unterschiedlich vor: Google pausiert nach heftigen Protesten von Autoren und Verlagen bis November mit dem Einscannen und lanciert parallel ein «Publisher Program», mit dem die Verlage als Entgelt für die Freigabe von Büchern Gratis-Promotion für ihre Erzeugnisse erhalten. Yahoo setzt dagegen vorerst auf lizenzfreie Werke und ruft die Open Content Alliance OCA ins Leben (www.opencontentalliance.org), die nur copyright-freie und vom Autor explizit zur Verfügung gestellte Bücher erfasst. Von Anfang an dabei ist neben Yahoo das Internet Archive (www.archive.org), das künftig für die Verwaltung der OCA-Inhalte verantwortlich zeichnet.









Ein Blick ins Internet Archive ist im übrigen jedem Kulturenthusiasten schon heute dringendst zu empfehlen. Unter den knapp 20'000 Filmen, über 26'000 Konzertmitschnitten, fast 33'000 Audioaufnahmen und 24'000 Texten findet sich manche Trouvaille, die im Handel längst vergriffen ist oder gar nie zu haben war. Hochinteressant ist die Sub-Kollektion CLASP (Classic Software Preservation Project): Hier finden sich Software-Klassiker aus den Anfängen des PC-Zeitalters – im Moment handelt es sich zwar erst um sieben Spiele, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Nostalgiker kriegen bei Block Out, Gauntlet und Larry jedenfalls feuchte Augen und zittrige Finger.

(ubi)


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