Netscape 6.0: Keine Revolution

Der brandneue Netscape-Browser ist trotz langer Entwicklungszeit instabil.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2000/44

     

Während über drei Jahren hat es Netscape unterlassen, einen Major-Release des eigenen Browsers auf den Markt zu bringen. Diese Zeit hat Microsoft genutzt, die Marktanteile zusehends auszubauen - sie liegen etwa bei 86 Prozent. Um nicht auch noch bei der Versionsnummer gegenüber Microsoft zu sehr ins Hintertreffen zu gelangen, beschloss Netscape Mitte Februar, die Version 5.0 zu überspringen und gleich eine Version 6.0 auf den Markt zubringen. Nach drei Previews kann nun seit Mitte November die Gold-Version des neuen Browsers heruntergeladen werden. Auch eine deutsche Ausführung steht bereit - allerdings haben sich ein paar Übersetzungsfehler eingeschlichen. Im 25 MB grossen Download sind neben dem Browser sämtliche bekannten Netscape-Komponenten wie der HTML-Composer, Mail- und Newsgroup-Client enthalten. Hinzu kommen die Java 2 Virtual Machine, AOL Instant Messenger, RealPlayer 8 und ein Net2Phone-Client für Internet-Telefonie. Ebenfalls enthalten sind diverse Plug-ins etwa für Flash und Shockwave.



Beim Aufstarten von Netscape 6.0 springt als erstes die neue Benutzeroberfläche ins Auge. Insbesondere Buttons und Icons haben ein neues Design erfahren. Liebhaber des vertrauten Netscape-GUI müssen aber nicht verzagen: Der Browser kann im Menü Ansicht in das trockenere Mausgrau zurückversetzt werden. Die neue Benutzeroberfläche setzt auf der XML-basierenden XUL-Sprache auf. Dadurch sind in Zukunft der Phantasie keine Grenzen gesetzt, um weitere Skins zu entwickeln - allerdings ein verspieltes Feature, das den Power-User kaum interessieren wird.




Für alle Anwendergruppen von Bedeutung ist hingegen die neue My Sidebar, eine Seitenleiste, über die einige wichtige Funktionen, etwa die Search Engine von Netscape oder die Buddy-List für den Instant Messenger, direkt zugänglich sind. Nach einer kurzen Gewöhnungszeit wird man My Sidebar zu schätzen wissen, das Feature steht dem Pendant im Internet Explorer in nichts nach.


Neue Verwaltungsfunktionen

Mit Netscape 6 erhält der Anwender ein gutes Werkzeug zur Verwaltung von Cookies und Passwörtern für einzelne Websites. In der integrierten Cookie-Liste können Websites erfasst werden, von denen die Kleinstdateien nicht akzeptiert werden sollen. Ebenso bei den Kennwörtern: Diese lassen sich mit einzelnen Seiten assoziieren, wobei auch Webadressen verzeichnet werden können, für die keine Passwörter gespeichert werden sollen.
Ein weiteres Hilfsmittel ist eine Funktion, mit der die geläufigsten Einträge in Web-Formularen, etwa E-Mail- und Postadresse, automatisch erfasst werden. Auch diese Daten lassen sich verwalten.



Neben dem Browser wartet auch der E-Mail-Client zumindest mit einer sehnlichst erwarteten Neuerung auf: Endlich wird der Zugriff auf mehrere POP3-Mail-Accounts unterstützt. Nach wie vor nicht vorhanden sind S/MIME-Support und Filterfunktionen gegen Spamming.




Ein gelungenes Feature ist die Verknüpfung von My Sidebar mit Mail-Client und dem Adressbuch. Ob ein Chat-Partner online ist, lässt sich direkt überprüfen, sofern er ebenfalls den Dienst von AOL verwendet. Setzt man eine E-Mail ab, kann man also davon ausgehen, dass diese den Empfänger umgehend erreicht. Die Mail-Adressen von versandten und empfangenen Nachrichten werden nun automatisch im Adressbuch eingetragen. Die lokal gespeicherten Kontakte lassen sich zudem mit jenen synchronisieren, die auf dem Online-Service von Netscape abgelegt werden.




Aus der Sicht des Webdesigners

Webdesigner hatten bis jetzt keine leichte Aufgabe, wenn sie eine Page so programmieren wollten, dass sie sowohl auf dem Netscape- als auch auf dem Microsoft-Browser identisch angezeigt wurde. Insbesondere der Navigator tat sich schwer mit Web-Standards wie CSS und DOM Level 1. Netscape hat nun für die Version 6.0 die Hausaufgaben fleissig gemacht, und die relevanten Standards werden weitgehend unterstützt. Bei der CSS-Implementierung scheinen einzig die Margin-Right-Formatierung und die Text Decoration nicht einwandfrei zu funktionieren. Dafür werden ansatzweise bereits die Versionen 2 von CSS und DOM unterstützt. Einige munkeln, dass sich Netscape bei den Standards viel enger an die Richtlinien des World Wide Web Consortium (W3C) gehalten habe als Microsoft.




Es zeigt sich aber, dass sich die beiden Produkte bei der Darstellung von Seiten in etwa gleich verhalten. Trotzdem: Wer auf Nummer sicher gehen will, muss beim Cross-Browser-Development auch die Darstellung in der neuesten Navigator-Version überprüfen. Nach wie vor laufen zum Beispiel die Schriften in den beiden Browsern nicht völlig identisch und Tabellen werden geringfügig anders formatiert. Es bleibt also beim Trial-and-Error-Verfahren.


Anschluss beinahe geschafft

Netscape 6.0 bietet für Webdesigner neue Möglichkeiten, ihre Inhalte zu den Anwendern zu bringen. Netscape stellt einen JavaScript-Button zur Verfügung, über den die User per Klick eine Webpage oder eine Web-Applikation in die My-Sidebar-Leiste übernehmen können. Für diesen Content werden auch die Standards HTML 4, XML, CSS 1, DOM 1 und RDF unterstützt. Netscape hofft, dass beispielsweise Hersteller von Multimedia-Player-Software ihre Produkte künftig in die Leiste integrieren werden.



Zweifelsohne hat Netscape mit der Version 6.0 gegenüber Microsoft mächtig aufgeholt. Zudem bietet die neue Benutzeroberfläche den weniger geübten Surfern einen einfachen Einstieg. Allerdings sind die Redmonder auch nicht untätig geblieben und haben ihren Browser mittlerweile noch stärker in das Betriebssystem integriert, was die Performance verbessert.




Die vom Open-Source-Projekt Mozilla entwickelte Netscape-Rendering-Engine Gecko wurde immer wieder als sehr schnell gepriesen, in unserem Test konnten wir diese erhöhte Geschwindigkeit gegenüber den Vorgängerversionen nicht nachvollziehen - ausser dass die Webpage nicht jedes Mal neu geladen wird, wenn die Fenstergrösse verändert wird. Darüber hinaus erwies sich der Browser als instabil und fror mehrmals ein. Das kennt man aber auch von Microsofts Konkurrenzprodukt. Da der Navigator 6.0 etwa 30 MB Arbeitsspeicher frisst (IE ca. 10 MB), läuft er erst auf einem PC mit 64 MB RAM und mehr befriedigend. Der unbestrittene Vorteil von Netscape bleibt der Linux-Support.



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