Editorial

Schimpf- und Unwörter

Alljährlich untersucht die Gesellschaft für deutsche Sprache die Presselandschaft und kürt darauf das Unwort des Jahres - ein Vorschlag für ein IT-Unwort.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2002/43

     

Alljährlich untersucht die Gesellschaft für deutsche Sprache die Presselandschaft und kürt darauf das Unwort des Jahres. Unter dem Eindruck der terroristischen Septemberereignisse 2001 wurde letztes Jahr dem "Gotteskrieger" diese zweifelhafte Ehre zuteil, aber auch die "Gewinnwarnung" oder das "therapeutische Klonen" kamen in die Ränge. Gerade die Gewinnwarnung hat bekanntlich nach wie vor Hochkonjunktur...



1996 war es hingegen der Begriff "Outsourcing", der die Unwort-Weihen der deutschen Sprachpäpste erhielt. Und das ist ja nun eigenartigerweise im IT-Umfeld zur Zeit vielmehr ein Hoffnungsträger als ein Unwort. Outsourcing, davon verspricht man sich viel, hier soll auch in den nächsten Monaten viel Umsatz gebolzt werden. Ganz im Gegensatz zum Begriff Customer Relationship Management oder kurz CRM.




Diese Abkürzung ist ein klassisches Beispiel für ein Unwort: Alle brauchen den Begriff, niemand kennt ihn genau, und was er beschreibt, gab es schon lange, bevor die neue Bezeichnung die Runde machte. Kundenbeziehungen existierten schon zu Zeiten der Jäger und Sammler und des Tauschhandels. Und dass man sie pflegen muss, war schon damals überlebenswichtig.



Jene Firmen, die CRM predigten und immer noch hoch halten, stehen nun vor dem Debakel, dass ihre Kunden das Kürzel mittlerweile fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Und deshalb heisst es "zurück zum Start". Sie müssen wieder mit der Basisarbeit beginnen, den existierenden und potentiellen Kunden erklären, um was es genau geht und weshalb es so wichtig ist. Beziehungsweise müssen sie erklären, warum man just ihre Produkte einsetzen sollte, um die Kundenbeziehungen besser pflegen zu können. Gerade in Zeiten, in denen der Franken nicht mehr so locker sitzt wie auch schon, ist dies kein einfaches Unterfangen (Seite 8).



Wäre CRM nicht ein so furchtbar amerikanischenglischer Begriff, er wäre wohl ein Anwärter für das Unwort 2001 gewesen - für die IT-Welt allemal. Noch heute kann man jemandem leise zu verstehen geben, er sei ein Depp, indem man ihm die folgende Phrase um die Ohren wirft: "Für mich bist Du einfach ein elender CRM-Projektleiter." Versuchen Sie es doch einmal.



Im nun bald zu Ende gehenden Jahr stellt sich erneut die Frage nach einem würdigen Unwort - und sei es nur für die IT-Industrie. Ist es Return on Investment? Wohl kaum. Ich hätte da einen Anwärter: "360-Grad-Sicht". In verschiedenen Publikationen und an diversen Pressekonferenzen in diesem Jahr stolperte ich immer wieder über dieses für mich ziemlich irritierende Begriffskonglomerat.



Gerade die Gattung Mensch zeichnet sich ja wahrlich nicht durch ein grosses Gesichtsfeld aus - da schneiden die Vögel weit besser ab. Seit dem Auftreten der ersten Panoramakameras und später mit der digitalen Bildverarbeitung kann man sich - wenn auch nur zweidimensional - künstlich zu diesem Rundumblick verhelfen. Und just in diesem Jahr soll es also besonders viele Software-Lösungen geben, die dem Benutzer eine umfassende Sichtweise vermitteln.



Nun, das kann man sehen, wie man will. Und es könnte ja durchaus sein, dass Sie mit diesem Unwort-Vorschlag überhaupt nicht einverstanden sind. Und deshalb: Seien Sie kein elender CRM-Projektleiter und schicken Sie mir ein paar Vorschläge.




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