Editorial

Trittbrettfahrer des Fortschritts


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/17

     

Eine Schweizerische Organisation des Service Public beschied unserem Forschungsinstitut jüngst auf die Bitte, im Rahmen einer Studie einen Fragebogen auszufüllen, dass man an zahlreichen Umfragen immer wieder mitgemacht habe, und dies auch noch «gratis». Zwar wären die als Gegenleistung versprochenen Berichte zugestellt worden, hätten sich aber oftmals als «unbrauchbar» erwiesen, so dass man in der Direktion beschlossen hätte, an keinen solchen Umfragen mehr mitzumachen. In einer kleinen, besonders rückständigen oder durch geringe Professionalität geprägten Organisation würden soviel Ignoranz und Pauschalisierung nicht verwundern. Erwähnenswert wird diese Einstellung aber dadurch, dass die betreffende Organisation nicht nur ein bedeutender Arbeitgeber und eine Ausbildungsstätte für Wissenschaftler ist, sondern in ihrer Selbstdarstellung behauptet, für ihre Kunden Leistungen nach dem neuesten Stand des wissenschaftlichen Fortschritts zu erbringen.




Das Sankt-Floriansprinzip, wonach alle anderen lästige Pflichten wahrnehmen sollen, man selber aber aufwandslos allein die Vorteile realisieren will, ist aus allzu vielen Kontexten bekannt. Neu ist, dass auch im Bereich der Forschung zwar immer lauter ein freier Zugang zu möglichst allen Forschungsergebnissen gefordert wird (Stichwort «Open Access»), auf der anderen Seite aber noch nicht einmal die Bereitschaft da ist, Fragebögen auszufüllen.





Woher sollen relevante Forschungsergebnisse kommen, die ihrerseits die Grundlage für die Entwicklung innovativer Lösungen bilden? Die Theorien der Informationssystemforschung resultieren aus sozialwissenschaftlichen Studien, die Nutzenwirkungen, Nutzungsumfang, Akzeptanz etc. von IT-Lösungen in eine systematische Verbindung mit Gestaltungsfaktoren, Einführungsinstrumenten und anderes mehr bringen. Die in Standardsoftware gegossenen Referenzprozesse und Informationsmodelle resultieren aus Konstruktionsforschung, die für Organisations- oder Automatisierungsprobleme systematisch generische Lösungen erarbeitet. Die Verweigerung, an Umfragen teilzunehmen, und die Verweigerung, durch Prototypen-Einsatz an der Evaluation von Konstruktionsforschung mitzuwirken, wird die Informationssystemforschung lähmen. Dies darf nicht geschehen, denn Forschung und Innovation sind die einzigen nachhaltigen Wohlstandsgaranten in Regionen ohne Rohstoffe und mit hohen Arbeitskosten.




Wenn Forschende darum bitten, an Umfragen teilzunehmen oder Prototypen einsetzen zu dürfen, sollte allerdings auch sichergestellt sein, dass ein gesamthafter Nutzen entsteht. Allzu oft muss man beim Ausfüllen eines Fragebogens feststellen, dass das Beantworten mehr Zeit beansprucht, als der Verfasser offensichtlich bei der Ausarbeitung der Fragen aufgewendet hat. Prototypen sollten relevante Probleme in realistischer Weise adressieren und nicht primär akademische «Proof-of-ideas» sein. Informa­tionssystemforschung und ‑entwicklung bedürfen der breitflächigen, nachhaltigen Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Anwendenden. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass sich die Nutzniesser eines wissenschaftlichen Sankt-Floriansprinzips in Ländern wie Indien oder China finden.




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