David Rosenthal: E-Mail - Killerapplikation im doppelten Sinn

Ohne E-Mails kommt kaum ein Betrieb mehr aus. Doch wie jede Anwendung hat auch elektronische Post ihre Schattenseiten.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2001/42

     

Die moderne Telekommunikation und Informationstechnik soll unser Arbeiten im Büro bequemer und effizienter gestalten. So wird es uns von den Anbietern der Produkte verkauft. Die elektronische Post ist ein Musterbeispiel dafür: Ohne E-Mails kommt kaum ein Betrieb mehr aus. Ich schätze die Annehmlichkeiten, die dieses Kommunikationsmittel bietet: Seine Post einfach und simpel mit einem Antwortknopf und einigen Zeilen hier und da erledigen zu können, mal sofort, mal aber auch erst zwei Tage später - und auch unterwegs.



So geht es nicht nur mir. Bis 2005 soll die Zahl der täglich versandten E-Mails laut IDC auf 36 Milliarden steigen, ohne all die computergenerierten elektronischen Briefe. Die elektronische Post hat sich zu einer "Killerapplikation" der neuen, vernetzten Welt entwickelt.




Das sind zweifellos keine neuen Erkenntnisse. Doch wie jede Anwendung hat auch elektronische Post ihre Schattenseiten. Auch das ist nichts Neues, doch werden die negativen Eigenschaften allzu oft verdrängt. Die meisten Unternehmen haben sich bisher nur damit beschäftigt, möglichst alle Mitarbeiter dazu zu erziehen, dass sie ihre E-Mail-Programme - am besten mit eingebauter Gruppen-Kalenderfunktion - möglichst fleissig benutzen.


Welche E-Mails löschen?

Sicherlich: Fast jeder grössere Betrieb hat heute ein Internetnutzungsreglement, das auch die elektronische Post regelt. Zum Schutz der eigenen Ressourcen werden Versendungen von potentiell gefährlichen Inhalten oder "an alle" häufig eingeschränkt oder gestoppt. Mit den richtigen Programmen und Einstellungen der E-Mail-Software lässt sich das ohne Weiteres bewerkstelligen.



Was aber, wenn den Benutzern die Flut der E-Mails ganz einfach zuviel wird? Und wie sollen die Mitarbeiter ihre elektronische Post effizient verwalten? Welche Post sollen sie lesen, welche ausdrucken und nach welchen Regeln soll sie verschickt werden? Bei diesen Fragen und Problemen lassen die meisten Firmen ihre Mitarbeiter gnadenlos im Stich. Weder stehen sinnvolle technische Hilfsmittel zur Verfügung, noch Ratschläge, wie mit der Informationsflut umzugehen ist.




Die Folgen sind überall sichtbar: Elektronische Post bleibt zwar scheinbar ein effizientes Kommunikationsmittel. Doch sehr viel Energie verpufft ungenutzt, und viele Benutzer können die Flut von 50, 100 oder noch mehr E-Mails im Tag nicht mehr verarbeiten - oder brauchen viel Zeit dafür. Die Folgen: Produktive Arbeit bleibt liegen, und im Postfach wird ungelesen gelöscht, ignoriert oder hastig, knapp und kaum befriedigend geantwortet.




Aus den Augen, aus dem Sinn

Vielleicht ist das Löschen tatsächlich eine Lösung. Aus den Augen, aus dem Sinn, mag man sagen. Doch so einfach ist das nicht. Denn ist die E-Mail gesendet, ist damit auch ein Teil der Verantwortlichkeit weitergereicht: Löscht der Empfänger die Botschaft ungelesen, so tut er das auf eigene Gefahr. Er wird später nicht anführen können, er habe ihren Inhalt nicht gekannt. Mit der Zustellung ist ihm die Mitteilung gültig zugegangen, auch im rechtlichen Sinne. Das Problem spitzt sich dadurch zu, dass das Versenden von elektronischer Post und Zufügen von Empfängeradressen so einfach ist, dass es immer häufiger und ungehemmter praktiziert wird.



Die Technik kann uns bei der Lösung dieses Problems helfen. So gibt es Firmen, die sich auf die Bearbeitung und Verwaltung von elektronischer Post im Bürobetrieb spezialisiert haben. Ihre Tools können Mails automatisch kategorisieren oder die Verwaltung von Attachments vereinfachen. Auch bestehende E-Mail-Systeme bieten Möglichkeiten zur Entlastung der User, etwa öffentliche Ordner mit unpersönlichen E-Mail-Adressen, die sich für Mailinglisten-Mails eignen und die private Inbox frei halten.




Die Bewältigung der Probleme liegt bei den Benutzern. Unternehmen sollten Mitarbeitern nicht nur in die Bedienung des E-Mail-Clients einweisen, sondern auch in den effizienten und nervenschonenden Umgang damit. Wir werden aber auch unsere Erwartung gegenüber dem Medium und unseren Kommunikationspartnern zurücknehmen müssen. Tun wir das nicht, so wird der Effizienzgewinn beim Verfassen und Versenden von E-Mails langfristig durch die wachsende Belastung und natürlich die Abwehrreaktion der Empfänger wieder zunichte gemacht: Die Zahl der E-Mails wird zwar weiter zunehmen, doch dafür werden sie umso schlechter beantwortet werden - oder bleiben ungelesen. Gewonnen ist insgesamt nichts, nur der Stress steigt. Und die Killerapplikation "killt" sich allmählich selbst.



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