Agile Projekte: Muss das sein?

Von Katja von Bergen

Agil – so lautet das aktuelle Zauberwort in der Projektmanagement-Diskussion. Doch wann ist bei Projekten ein agiles Vorgehen angesagt? Und wann sind die bewährten Projektmanagement-Methoden zu bevorzugen?

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2018/06

     

Im Jahr 2001 veröffentlichten renommierte Software-Entwickler in den USA das "Agile Manifest für Softwareentwicklung". In ihm sind zwölf Prinzipien für die Softwareentwicklung formuliert. Sie basieren auf folgenden vier Axiomen:
• Menschen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.
• Eine funktionierende Software (Problemlösung) ist wichtiger als eine umfassende Dokumentation.
• Die Zusammenarbeit mit dem Kunden (im Projekt) ist wichtiger als das Aushandeln von Verträgen. Und:
• Ein Reagieren auf Veränderungen ist wichtiger als das Befolgen eines vorab formulierten Plans.

Dahinter steckt die Erkenntnis: Die Projekte in den Unternehmen sind heute oft so komplex und das Unternehmensumfeld ist heute so volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig, dass die tradierten (Projekt-)Management-Methoden eine Ergänzung brauchen. Es geht also nicht um ein "entweder-oder", sondern um ein "sowohl-als-auch".


Entscheidungssituationen divergieren

Doch wann ist ein agiles Vorgehen und wann sind Lean- und Standardprozesse angesagt? Hierzu hat Ralph Douglas Stacey, Professor für Management an der Hertfordshire Business School in Grossbritannien, geforscht und die Stacey-Matrix entwickelt. Sie ist eine Orientierungshilfe beim Beantworten dieser Frage.

Die horizontale Achse der Stacey-Matrix ist die Wie-Achse. Sie steht für den Weg, wie eine Aufgabe zu lösen ist, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Die vertikale Achse hingegen ist die Was-Achse. Sie steht für die Ziele, die es zu erreichen gilt, und die Anforderungen, die die Problemlösung erfüllen muss. Bei einem Projekt können sowohl die Ziele, die zu erreichen sind, als auch der bestmögliche Weg dorthin mehr oder weniger klar oder unklar sein.

Einfach, kompliziert, komplex oder gar chaotisch?

Der Stacey-Matrix zufolge ist eine (Management-)Entscheidung einfach, wenn ausser dem Ziel (und den Lösungsanforderungen) auch der Weg dorthin klar ist – zum Beispiel, weil das Unternehmen schon Routine im Lösen entsprechender Aufgaben hat. Dann ist folgendes Handeln angesagt: anschauen, einordnen, ableiten, reagieren. Sind jedoch das Was und/oder das Wie teilweise unklar, dann wird es kompliziert. Dann empfiehlt sich folgendes Vorgehen: anschauen, analysieren, reagieren. Und wenn neben den Zielen (und Lösungsanforderungen) auch der Weg dorthin unklar ist – zum Beispiel, weil die Herausforderung neu ist –, dann ist die Entscheidungsfindung komplex und es empfiehlt sich folgendes Vorgehen: probieren, anschauen, reagieren, erneut probieren, anschauen, reagieren und so fort – also in iterativen Schleifen zu arbeiten, um sich dem Ziel allmählich zu nähern. Und chaotisch wird die Entscheidungsfindung, wenn neben den Zielen und Anforderungen auch der Weg völlig unklar ist. Zum Beispiel, weil das Unternehmen zwar weiss, dass es sich für die Zukunft wappnen muss, jedoch nur darüber spekulieren kann:
• Wie entwickelt sich in den kommenden zehn Jahren unser Markt?
• Welche Problemlösungen sind dann möglich?
• Welche Anforderungen stellen dann unsere Kunden?

Dann ist vorübergehend nur ein Sichdurchwursteln und Starten von Versuchsballons, also agieren und reagieren, möglich, bis man eine gewisse Klarheit gewonnen hat und aus der chaotischen Entscheidungssituation zunächst eine komplexe und dann eventuell eine komplizierte wird.


Die Stacey-Matrix ist ein wirkungsvolles Instrument, um zu einer ersten Einschätzung eines Projektes oder Vorhabens zu gelangen; ausserdem zu einer Entscheidung darüber, welches Vorgehen mit hoher Wahrscheinlichkeit zielführend ist. Ist die Entscheidungssituation "einfach" oder "kompliziert", kommt man in der Regel mit Standardprozessen und Lean-Ansätzen weiter. Ist sie hingegen "komplex" oder gar "chaotisch", sollte man sich agiler Methoden bedienen.

Die Zukunft ist nicht vorhersehbar, jedoch gestaltbar

Ausgearbeitet wird dieser (Projekt-)Management-Ansatz in dem von Saras D. Sarasvathy, Professor an der University of Virginia (USA), entwickelten Effectuation-Ansatz. Er wurde für Situationen und Konstellationen entwickelt, in denen Entscheidungen nicht auf Basis einer kausalen Logik, die auf begründeten Vorhersagen beruht, getroffen werden können.

Der Effectuation-Ansatz geht von folgenden Voraussetzungen aus: Die Zukunft ist nur bedingt vorhersehbar. Sie kann jedoch durch Vereinbarungen zwischen autonomen Akteuren aktiv gestaltet werden. So zum Beispiel, wenn ein Unternehmen entscheidet: Wir setzen bei unserer Produktentwicklung auf die Trends Vernetzung oder Miniaturisierung. Dann reduziert sich die Unklarheit, weil gewisse Basisentscheidungen über das Ziel und die Anforderungen, die die Problemlösungen erfüllen müssen, getroffen wurden.


Ebenso verhält es sich, wenn das (Projekt-)Management, weil noch keine belastbaren Zukunftsaussagen möglich sind, zum Beispiel entscheidet: Wir investieren versuchsweise den Betrag X in die Entwicklung der Technologie A und den Betrag Y in die Entwicklung der Technologie B – denn wir wissen noch nicht, welche Technologie sich durchsetzt; wir möchten aber auf keinen Fall den technologischen Anschluss verlieren. Dann plant das Unternehmen die Zukunft sozusagen ausgehend von den Ressourcen und die zentrale Frage lautet: Welcher ist der maximale Betrag, den wir verschwenden können, sollten unsere Versuche nicht von Erfolg gekrönt sein? Auch das reduziert die Unklarheit.

Vier Entscheidungs- und Handlungsprinzipien

Saras D. Sarasvathya formulierte folgende vier Prinzipien zur Entscheidungsfindung in Situationen der Ungewissheit:
• Das Prinzip der Mittelorientierung: Es besagt, dass die verfügbaren Mittel und Ressourcen bestimmen, welche (veränderlichen) Ziele angestrebt werden – und nicht umgekehrt.
• Das Prinzip des leistbaren Verlusts: Es besagt, dass der Verlust oder Einsatz, den das Unternehmen verschmerzen kann, ohne zum Beispiel seine Existenz zu gefährden (und nicht der erwartete Ertrag), bestimmt, welche Gelegenheiten wahrgenommen und welche Schritte unternommen werden.
• Das Prinzip der Umstände und Zufälle: Es besagt, dass unerwartete Ereignisse und Umstände als Hebel zur Veränderung genutzt und in Innovationen und unternehmerische Gelegenheiten transformiert werden.
• Das Prinzip der Vereinbarung und Partnerschaft: Es besagt, dass Partnerschaften mit Personen oder Organisationen eingegangen werden, die bereit sind, trotz der bestehenden Ungewissheit verbindliche Vereinbarungen zu treffen und eigene Mittel in die Kreation von Gelegenheiten zu investieren, so dass die Erfolgsaussichten steigen und die Risiken für die einzelnen Partner sinken.

Ziel: Gemeinsam etwas ganz Neues schaffen

Basierend auf diesen vier Prinzipien entwickelte Saras D. Sarasvathya das dynamische Effectuation-Modell. Es zielt darauf ab, eine Vielzahl von Personen oder Organisationen in einer von Ungewissheit geprägten Situation auf neue Wege oder Ziele einzuschwören, so dass gemeinsam etwas ganz Neues geschaffen werden kann.

Dieses (Projekt-)Management-Modell stellt vieles auf den Kopf, was Führungskräfte sowie (Projekt- und Change-)Manager verinnerlicht haben – zum Beispiel das Credo: Je exakter und detaillierter ein Projekt im Vorfeld geplant wird, umso wahrscheinlicher und schneller erreicht es sein Ziel. Zumindest bei Projekten und Vorhaben, bei denen die Entscheidungssituation komplex oder gar chaotisch ist, ist dies fraglich.

Sich von starren Plänen verabschieden

Das klassische Projektmanagement ist es zudem gewohnt, dass Projekte ausgehend vom vorgegebenen Ziel sozusagen rückwärts geplant werden – mit Meilensteinen, um den Fortschritt zu kontrollieren. Ist das Ziel jedoch unklar oder steht es unter Vorbehalt, was für viele Projektmanager hochgradig verunsichernd ist, dann erfolgt die Planung ausgehend von den vorhandenen Ressourcen – und man schaut mal, wie weit und wohin man kommt.

Ein solches Vorgehen setzt voraus, dass die Führung (Entscheidungs-)Macht zum Beispiel an die Projektbeauftragten abgibt. Sie muss es zudem aushalten, wenn diese unkonventionelle Lösungswege beschreiten – schliesslich soll etwas ganz Neues geschaffen werden. Aber auch bei den (Projekt-)Mitarbeitern, die es gewohnt sind, dass ihnen die Führung klare Zielvorgaben macht, ist ein Umdenken nötig. Sie müssen lernen, mit einem vorübergehenden Führungsvakuum zurecht zu kommen – bis belastbare (Zukunfts-)Aussagen möglich sind.


Auf ein unklares Ziel zuzusteuern und sich immer wieder kritisch zu fragen, ob man sich (noch) auf dem richtigen Weg befindet – ein solches Vorgehen lässt sich mit den tradierten Management-Methoden, die sich vor allem auf definierte Massnahmenpläne mit hinterlegten Meilensteinen und Kennzahlen stützen, schwer vereinbaren. Das gilt insbesondere dann, wenn auch die Methoden und Verfahren, um das Ziel zu erreichen, in keinem Verfahrenshandbuch stehen, sondern agil, also situativ und kontextabhängig entschieden wird, welcher Lösungsansatz gewählt wird.

Situativ über das Vorgehen entscheiden

Eine Verschwendung von Ressourcen und ineffektiv wäre es, einfach lösbare Probleme und Aufgaben agil anzugehen. Anders ist es, wenn die Entscheidungssituation kompliziert, komplex oder gar chaotisch ist. Dann ist es hilfreich, sich vor dem Start eines Projektes zum Beispiel mit der Stacey-Matrix bewusst zu machen, welchen Charakter das Vorhaben hat, um sich anschliessend für ein mehr oder weniger agiles Vorgehen zu entscheiden. Wird ein Projekt jedoch unreflektiert agil angegangen, ist die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns hoch. Zudem sagen die Beteiligten dann anschliessend: Agilität funktioniert nicht.

Die Autorin

Katja von Bergen arbeitet als Unternehmens- und Managementberaterin für die international agierende Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal (www.kraus-und-partner.de). Sie ist auf die Themenfelder Change Management, Projektmanagement und Unternehmensentwicklung spezialisiert.


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