Hartes Bioinformatik-Pflaster für IT-Spezialisten

Die Zahl der Bioinformatik-Arbeitsplätze ist weit weniger gewachsen als prognostiziert. Gefragt sind heute vor allem Naturwissenschaftler mit IT-Zusatzkenntnissen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/10

     

Bioinformatik wurde 2001, als die erste praktisch vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms mit grossem Medienrummel abgeschlossen war, zum kommenden Boom-Gebiet der IT erklärt. Inzwischen ist das Erbgut vieler weiterer Organismen bekannt, und die Datenberge wachsen auch wie damals vorhergesehen. Aber hat die Bioinformatik auch neue Arbeitsplätze für IT-Spezialisten geschaffen? InfoWeek hat bei Schweizer Biotech- und Pharmaunternehmen nachgefragt, wie heute die Berufsaussichten sind. Das Fazit: Für IT-Spezialisten wird es zunehmend schwieriger, sich im Bioinformatik-Umfeld zu etablieren. Der Bereich boomt zwar nach wie vor, gesucht werden aber heute hauptsächlich Naturwissenschaftler mit zusätzlichen IT-Kenntnissen und weniger Informatiker. Die IT-Spezialisten können allerdings indirekt profitieren, indem die zentralen
IT-Abteilungen der Pharma- und Biotechunternehmen wachsen.


Auswerten und Simulieren

In der biologischen und medizinischen Forschung fallen seit einigen Jahren riesige Datenmengen aus der Sequenzierung des Erbguts aller möglichen Lebewesen und von Laborrobotern an, die geordnet und ausgewertet werden müssen. Dazu kommt in jüngerer Zeit die Simulation von biologischen Systemen mittels Hochleistungsrechnern, durch die Strukturen von Molekülen oder auch mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten vorhergesagt werden können. Diese sehr unterschiedlichen Formen der Datenverarbeitung werden zusammen mit den Strukturberechnungen von Molekülen unter dem Begriff Bioinformatik zusammengefasst.





Im Jahr 2002 hatte das Beratungshaus Cap Gemini Ernst & Young eine Studie über die Realität und Zukunftsaussichten der Verarbeitung biologischer Daten im deutschsprachigen Raum verfasst. Die Autoren kamen damals zum Schluss, dass die Zukunftsaussichten für die Schweiz in diesem Gebiet wegen der grossen Dichte an Pharma- und Biotechunternehmen überdurchschnittlich gut seien. Wachstumsraten von über 30 Prozent pro Jahr wurden prognostiziert. Als Hemmschuh könnte sich aber der Arbeitsmarkt erweisen, so die Sorge damals. 80 Prozent der Unternehmen klagten 2002, es sei praktisch unmöglich, entsprechend qualifizierte Mitarbeiter zu finden, und der Bedarf hätte sich gemäss Studie bis 2004 verdoppeln sollen.


Ernüchternde Realität

Heute zeichnet Jürgen Hammer, Leiter der Forschungsinformatik bei Roche Pharmaceuticals, ein anderes Bild. Die Anzahl der Bioinformatiker sei bei Roche in den letzten zwei Jahren mehr oder weniger stabil geblieben. Von den rund 2000 Mitarbeitern der Roche-IT ordnet Hammer etwa vier Prozent oder rund 80 Spezialisten der Kategorie Bioinformatiker zu, wenn man eine relativ breit gefasste Definition anwende. Diese können grob in zwei Gruppen eingeteilt werden: die-
jenigen, die Forscher bei komplexen Datenanalysen und beim Knowledge Retrieval unterstützen, und jene, die für die Datenerfassung in den Labors und für die Labor-Workflow-Systeme zuständig sind. Die erste Gruppe wird, laut Hammer, in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. Demgegenüber wird die zweite Gruppe mehr und mehr durch kommerzielle Plug-and-Play-Workflow-Systeme ersetzt, so seine Vorhersage. Über das Ganze gesehen konstatiert er heute ein leichtes Überangebot an Bioinformatikern.


Positiver für Dienstleister

Etwas positiver sieht Ernest Feytmans, Direktor des Schweizerischen Instituts für Bioinformatik (SIB) in Lausanne, den Arbeitsmarkt. Das Institut betreibt als Non-Profit-Organisation verschiedene wissenschaftliche Datenbanken wie Swissprot oder die Ashbya Genomdatenbank. Diese Datenbanken bilden eine weltweite Wissensgrundlage sowohl für die akademische als auch für die kommerzielle Forschung. Das SIB ist also ein eigentlicher Bioinformatik-Dienstleister.
Die Zahl der am SIB tätigen Bioinformatiker ist in den vergangenen zwei Jahren von 80 auf 130 gestiegen. In den nächsten Jahren erwartet Feytmans einen weiteren Anstieg auf rund 170 Spezialisten.
Wachsen werden vor allem die Datenbanken und die Systembiologie, das heisst die Computersimulation biologischer Systeme. Demgegenüber sieht auch Feytmans eine Abnahme bei der Datenerfassung im Labor, die zusehends automatisiert werde. Ein Mangel bestehe heute vor allem an Fachleuten mit Erfahrung. Jung-Bioinformatiker gebe es demgegenüber zur Zeit eher zu viele, so der Direktor des SIB.





Bioinformatikausbildungen an Schweizer Hochschulen


Unterschiedliche Sichtweisen

Die unterschiedlichen Sichten auf den Bioinformatikarbeitsmarkt von Hammer und Feytmans erklären sich durch die unterschiedlichen Ausrichtungen ihrer Organisationen. Das Lausanner Institut ist ein spezialisierter Bioinformatik-Dienstleister in der Forschungs- und Pharmanahrungskette, bei dem sich alles um dieses Thema dreht. Damit arbeitet auch jeder Datenbank- oder Betriebssystemspezialist des Instituts in der Bioinformatik. Demgegenüber hat Roche ihre Informatik zentralisiert. Die Datenbankspezialisten, die beispielsweise im Hintergrund für die Bioinformatik arbeiten, gehören zur zentralen IT-Abteilung. Die unterschiedliche Sichtweise zeigt sich auch deutlich bei der Frage, ob IT-Spezialisten mit einer biologischen Weiterbildung oder Biologen mit vertieften Informatikkenntnissen für die Bioinformatik geeigneter seien. Während Feytmans bei beiden interessante Fähigkeiten ausmacht und der Meinung ist, sie sollten in erster Linie zusammenarbeiten, wehrt Hammer ganz klar ab: Er würde heute keinen IT-Spezialisten mehr in der Bioinformatik einstellen. Aber auch Feytman rät einem IT-Spezialisten, der Bioinformatiker werden will, Molekularbiologie und damit Wissenschaft zu lernen.






Ein weiterer Faktor, der die relativ negative Beurteilung durch den Roche-Mann erklärt, ist die heute in der ganzen Wirtschaft fast schon zum Dogma erhobene Praxis des Outsourcings und der Konzentration auf die Kernkompetenzen. Pharma- und Biotechfirmen lagern in diesem Geiste auch immer mehr spezialisierte Forschungsaufgaben an Dienstleister wie das SIB aus.


Das Berufsbild verschwindet

Ob es sich heute überhaupt noch lohnt, sich auf Bioinformatik zu spezialisieren, ist auf jeden Fall fraglich. Hammer sieht das Gebiet künftig als eine von vielen Kompetenzen, die ein Forscher beherrschen muss, und immer weniger als eigenständige Disziplin. Dementsprechend macht es für IT-Fachleute heute nur noch Sinn, sich in Richtung Bioinformatik weiterzubilden, wenn sie ganz auf Wissenschaft umsatteln und ein entsprechendes Studium in Angriff nehmen.
Auf der anderen Seite wird die Datenverarbeitung in der Biologie aber durchaus Arbeitsplätze für Informatiker schaffen, denn die wachsenden Cluster für die Modellrechnungen, die Datenbanken und die Speicherinfrastrukturen müssen auch in den zentralen IT-Abteilungen der Pharma- und Biotechunternehmen von IT-Spezialisten aufgesetzt und betreut werden.




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