Immer und überall erreichbar

Die ständige Erreichbarkeit hat sicher Vorteile, wirkt sich aber auch auf die Work-Life-Balance aus. Wer sich nicht abgrenzen kann, läuft Gefahr, krank zu werden.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/08

     

Handy, PDA, Pocket PC, Smartphone: Jeder kennt sie und fast jeder trägt eines dieser kleinen Helferchen ständig auf sich. Die Gerätchen sind in der Berufswelt längst vom Statussymbol zum unverzichtbaren Arbeitsinstrument mutiert. Und spätestens seit der Mail-Push-Handheld Blackberry seinen Siegeszug angetreten hat, sollte man sich auch Gedanken darüber machen, welche Konsequenzen die «Immer-und-überall-Erreichbarkeit» mit sich bringt.
Die Unternehmen wird es freuen, wenn ihre Mitarbeiter 168 Stunden pro Woche erreichbar sind und überall ihre E-Mails bearbeiten können. Die Sache hat aber auch ihre Schattenseiten. Sieben von zehn Managern fühlen sich von E-Mails gestresst. Dies zeigt der Management-Index 2004, der von der Business-Schule Ashridge unter 500 internationalen Führungskräften erhoben wurde. Die ständige Erreichbarkeit wirkt sich auch auf die Work-Life-Balance aus. So nehmen rund 55 Prozent der Manager Arbeit mit nach Hause und mehr als die Hälfte der Befragten arbeitet über 60 Stunden pro Woche.


Zwei Gruppen

Obwohl sich viele Arbeitnehmer durch die ständige Erreichbarkeit unter Druck fühlen, schaffen es viele nicht, abzuschalten. Der auf Kader-Assessment und Schulung spezialisierte Berufspsychologe Markus Furrer unterscheidet dabei vor allem zwei Typen. Die einen sind diejenigen, die einen sehr belastenden Job haben und sich grosse Mühe geben, dieser Aufgabe auch gerecht zu werden, aber im Grunde überfordert sind. «In dieser Überforderung wollen sie stets optimal erreichbar sein, was zu Stress führt», so Furrer. Die zweite Gruppe sind Menschen, die eigentlich immer erreichbar sein wollen, so als würde es ohne sie nicht gehen. Sie binden Informationen an sich, um dauernd ihre Wichtigkeit zu legitimieren. Im Klartext: «Die erste Gruppe betrifft Leute, die sich oft aus Ehrgeiz überfordern, überschätzen und zuviel aufladen. Die Menschen der zweiten Kategorie sind innerlich häufig unsicher und versuchen, dies durch stete Präsenz zu kompensieren», sagt der Psychologe.


Zwang der Erreichbarkeit macht krank

Ideal ist es, wenn eine Führungsperson ein Team so aufbaut, dass es auch ohne ihn funktioniert. Das ist aber nur möglich, wenn die Führungsperson dies auch will. Ist der Wille (beispielsweise aus Prestigegründen) nicht vorhanden, hat man Mühe, diese Abgrenzung vorzunehmen. Es gibt aber auch Führungspersonen, die Opfer ihrer eigenen Vorgesetzten sind, welche einen Druck ausüben in der Form von: «Du musst immer erreichbar sein, ich bin es auch.» Grundsätzlich hat die ständige Erreichbarkeit eine positive Seite. «Im Berufsleben ist Erreichbarkeit etwas sehr Wichtiges. Man muss wissen, wo jemand ist und wie man ihn erreichen kann», sagt Furrer. Man müsse aber auch definieren, wann, wie und wo jemand erreichbar ist. Denn ein Mensch brauche auch im Arbeitsleben gewisse Zeiten, während denen er sich zurückziehen kann. Er muss definieren können, wann er nicht erreichbar ist. Er soll sich engagieren, aber auch in der Lage sein, sich abzugrenzen. «Jede Person muss das in Abstimmung mit ihrem Umfeld definieren», so der Fachmann, «denn sonst wird der ganze Zwang der Erreichbarkeit zu Stress, und das macht mit der Zeit krank.»
Dabei können sowohl psychische als auch physische Krankheitssymptome auftreten. Diese reichen von Gereiztheit, schlechtem Schlaf, dem Vernachlässigen von privaten Beziehungen, die Freizeit nicht mehr geniessen, nicht mehr loslassen oder durchatmen können, einem gestörten psychischen und physischen Gleichgewicht bis hin zu körperlichen Beschwerden wie Rückenproblemen oder Magenschmerzen. «Wichtig ist, dass man sich selber wahrnehmen kann. Denn ein Anzeichen dafür, dass es zuviel wird, ist, dass man selber nicht mehr merkt, wann es einem nicht mehr gut geht», sagt Furrer.


Vorbeugen ist besser als heilen

Auf die Frage, wie man allfälligen Problemen am besten vorbeugt, antwortet der Psychologe: «Man sollte aus dem Alltag heraustreten, über sich nachdenken und das Thema Abgrenzung reflektieren.» Dazu kann man sich folgende Fragen stellen: Wo sage ich ja, wo sage ich nein? Welchen Anforderungen bin ich gewachsen, welchen nicht? Wie sieht mein Zeitmanagement aus? Wo und wann stehe ich jedermann zur Verfügung und wo nicht? Wie kann ich mein Wochen- und Tagesprogramm gestalten und Inseln bauen, in denen ich nicht erreichbar bin? Wie kann ich mein Umfeld entsprechend gestalten? Darüber hinaus soll man sein Engagement vorausdenkend strukturieren und planen. Vor allem ist es wichtig, ehrlich mit sich selber zu sein. Dazu gehört auch die Frage, ob jemand am richtigen Ort in der richtigen Funktion oder vielleicht schon einen Schritt zu weit gegangen ist.


Die Pflicht der Unternehmen

Bei aller Selbstreflexion darf man nicht vergessen, dass auch die Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern Pflichten haben. Zwar soll die mit den neuen Technologien ziemlich schnell in die Firmen einziehende neue Kommunikationskultur auch genutzt werden. Diese neue Kultur muss aber strategisch diskutiert werden. «Ein Unternehmen muss sich die Frage stellen, was in Sachen Kommunikation wichtig ist, und wo es Grenzen ziehen muss, damit die Mitarbeiter nicht überfordert werden», sagt Markus Furrer. Die ständige Erreichbarkeit beeinträchtigt zudem auch die Arbeitskonzentration der Mitarbeitenden. «Schon aus psychologischen Gründen soll man das Individuum schonen», so der Fachmann. Ausserdem seien Schonräume von Nichterreichbarkeit wichtig für die Kreativität. «Im Berufsleben wird heute viel Betriebsamkeit entwickelt und über alle Kanäle sehr viel kommuniziert und informiert. Oft ist aber auch vieles redundant», so Furrer abschliessend.




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