CIO-Interview: 'Das Wort Projekt mag ich nicht wirklich'
Quelle: SITM

CIO-Interview: "Das Wort Projekt mag ich nicht wirklich"

Der Immobilienmarktplatz Homegate befindet sich im Wandel. CTO Jens Paul Berndt erklärt, weshalb dieser nötig war und warum er nicht mehr in abgeschlossenen Projekten denken möchte.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2019/01

     

"Swiss IT Magazine": Sie wurden jüngst als einer der Top CIOs 2018 ausgezeichnet. Wie sind Sie zu dieser Ehre gekommen?
Jens Paul Berndt: Die Auszeichnung kam mir deshalb zuteil, weil Homegate seit Herbst 2017 einen Wandel in einer Geschwindigkeit durchgemacht hat, die in der Schweiz in dieser Art einzigartig ist.

Können Sie das ein wenig ausführen?
Im September 2017, wenige Monate, nachdem ich den CTO-Posten übernommen hatte, haben wir vom Verwaltungsrat grünes Licht bekommen, massiv in die Zukunft von Homegate zu investieren. Das hatte zur Folge, dass wir das Engineering bei Homegate komplett anders aufstellen mussten und unser Team massiv vergrössert haben. Mittlerweile haben wir eine sehr grosse Diversität in unserem Team. Bei Homegate arbeiten heute Mitarbeiter aus 17 verschiedenen Nationen. Und die Kultur im Engineering hat sich massiv gewandelt.


Warum war dieser Wandel nötig?
In Vergangenheit gab es im Wesentlichen eine grosse Legacy-Anwendung, an der gearbeitet wurde und die man zirka alle vier Wochen mit grossem Aufwand als neuen Release ausgeliefert hat. Wir waren also weit entfernt von agiler Software-­Entwicklung, konnten kaum neue Features entwickeln und hatten vor allem keine Möglichkeit, diese am Markt zu testen. Zudem sind mehr als die Hälfte der Engineering-Ressourcen in den Betrieb und die Wartung der Plattform geflossen. Nur rund 20 Prozent der Ressourcen konnten für die Weiterentwicklung aufgewendet werden. Als wir uns im Herbst 2017 entschieden haben, dass dies für die Zukunft kein Weg mehr sein kann, haben wir uns das Ziel gesetzt, die Situation innerhalb von zwei Jahren zu drehen. Wir haben also ein komplettes Re-Engineering gestartet, entwickeln heute alles nativ auf Amazon Web Services, und bezahlen perspektivisch auch nur noch für die Services, die wir nutzen und für die Kapazitäten, die unsere User brauchen. Das hat zur Folge, dass beispielsweise auch unser eigenes Rechenzentrum, das auf die maximalen jährlichen Spitzen ausgelegt ist und das uns jährlich einen satten sechsstelligen Betrag kostet, über kurz oder lang nicht mehr gebraucht wird. Mit AWS bezahlen wir nur noch an Hosting-Kosten, was unsere Nutzer auch wirklich beanspruchen, und wenn wir wachsen, wächst die Plattform ganz einfach mit. Ausserdem profitieren wir von der rasanten Innovationskraft und den ständig neuen Services, die auf AWS bereitgestellt werden. Das spüren dann am Ende unsere Nutzer durch tägliche Deployments auf die Live-Umgebung.
Sie haben gesagt, das Ziel von Homegate sei, die starke Position am Markt deutlich auszubauen. Welchen Einfluss hat denn die IT auf dieses Ziel?
In der Vergangenheit wurde IT eher als ausführendes Organ gesehen. Heute und in der Zukunft wird aber erfolgsentscheidend sein, dass das Produkt und das Engineering Hand in Hand gehen – das gilt übrigens nicht nur für uns, sondern für jedes Classified Business. Denn die Innovation am Markt geschieht immer schneller und ist hauptsächlich technologiegetrieben. Hier muss man mithalten können und – wenn man der Stärkste am Markt sein will – sogar vorangehen und die Entwicklung treiben können. Das ist ganz klar unser Ziel.


Liegt Ihre Aufgabe ausschliesslich bei der Weiterentwicklung der Plattform, oder zeichnen Sie auch für die grundlegende IT-Infrastruktur verantwortlich?
Diese Trennung, wie Sie sie ansprechen, gibt es bei uns eigentlich nicht mehr. Wir haben uns so aufgestellt, dass wir im Wesentlichen drei Organisationseinheiten unterhalten. Eine ist direkt auf die User ausgerichtet, also dafür verantwortlich, mehr Nutzer auf die Plattform zu bringen, diesen möglichst viele nützliche Features und Content bereitzustellen, damit sie die beste Entscheidung für ihre zukünftige Wohnsituation treffen können und so Leads für unsere Kunden zu generieren. Das zweite Segment ist dafür verantwortlich, neue Funktionen für die Immobilienanbieter bereitzustellen beziehungsweise bestehende Features zu optimieren. Und das dritte Segment nennen wir Consumer Services, es umfasst alle weiterführenden Dienste um Homegate: Werbe- und Partnerintegrationen, die für unsere Kunden und Nutzer hilfreich sind, etwa wenn sie umziehen oder eine Immobilie kaufen. Ich habe also nicht nur Engineers in meinem Team, sondern auch Product Manager und UX/UI-Profis.
Wie gross ist Ihr Team denn?
Gefühlt wächst das Team jeden Tag – im Dezember waren es etwas über 50 Mitarbeiter, was gut der Hälfte der Homegate-­Belegschaft entspricht.

Und wie ist dieses Team strukturiert?
Analog unserer Organisation. In unserem Engineering Leadership Team arbeiten neben mir drei Head of Technology – je einer ist für den Customer-Bereich, ­einer für den Consumer-Bereich und ­einer für die sogenannten Inhouse und Platform Services verantwortlich, sowie ein Head of Data. Damit werden wir den immer grösseren Anforderungen an unsere Daten-Insights- und Features gerecht. Ein Head of Security und Software Gardening komplettiert unser Team. Entwickelt wird in crossfunktionalen Delivery Teams, was bedeutet, dass in diesen Teams sowohl Software-Entwickler als auch Product Owner und UX/UI-Spezialisten tätig sind. Ab einer gewissen Anzahl Mitarbeitenden in diesen Teams schalten wir je nachdem einen Engineering Manager oder einen Delivery Lead zwischen den Head of Technology und das Team. Dessen Verantwortung ist es dann, dass die Teams kontinuierlich hohe Qualität liefern und jeder einzelne Mitarbeiter sich weiterentwickeln kann. Insgesamt zählen wir so sechs Teams, wovon eines in Belgrad für uns tätig ist. Das hilft uns, etwas rascher zu skalieren.
Sie haben gesagt, dass Ihr Team stark wächst. Wie gross ist die Herausforderung, neue Mitarbeitende zu finden?
Gross, vor allem dann, wenn man Mitarbeitende sucht, die auch vom Mindset her passen. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeitszeit und der Zeit meiner Teamleader ging im ersten Halbjahr 2018 für das aktive Recruiting neuer Fachkräfte drauf. Wir haben im letzten Jahr rund 2500 Gespräche mit Leuten geführt, die in rund 200 Interviews gemündet haben. Von diesen 200 Interviewpartnern haben wir 80 vor Ort eingeladen, und daraus haben sich letztlich 20 Anstellungen ergeben. Der Aufwand war riesig. Inzwischen aber bewerben sich immer mehr tolle und interessierte Engineers aktiv bei uns, da wir die Sichtbarkeit nach aussen erhöht haben, um zu zeigen, dass wir eine spannende Engineering-Firma sind, die neueste Technologien einsetzt und das erklärte Ziel hat, unbestritten das Immobilienportal zu werden, wo die Schweiz die besten Entscheidungen rund ums Thema Wohnen und Immobilien trifft.


Vor Homegate waren Sie bei der Scout-Gruppe in Berlin und in Österreich für einen sehr ähnlichen Bereich zuständig. Wie unterscheiden sich in Ihren Augen diese beiden Länder von der Schweiz beziehungsweise wie unterscheidet sich Ihre Arbeit?
Darin, wie der Markt funktioniert, unterscheiden sich die Länder kaum. Die Art und Weise, wie Leute etwas suchen, ist identisch, die gewünschte Funktionalität ist sehr ähnlich. Sehr wohl Unterschiede gibt es aber darin, wie wir diese Funktionalität bereitstellen. Eine grosse Herausforderung in der Schweiz war insbesondere das Thema Cloud-Engineering. Hier ist die Schweiz in meinem Empfinden um einige Jahre hinter dem zurück, was in Berlin möglich war. Das hatte ich zu Beginn meiner Tätigkeit bei Homegate völlig unterschätzt.
Wie hat sich das bemerkbar gemacht?
Ich habe früh den Entscheid gefällt, auf die Cloud und dabei auf AWS zu setzen. Wenn ich damals in Berlin einen Consultant aus dem AWS-Umfeld brauchte, der mir half, das Wissen in die Teams zu bringen, hatte ich innert Kürze zehn Experten an der Hand. Hier in der Schweiz dauerte es Monate, bis wir Leute an Bord hatten, die Erfahrung in dem Bereich vorweisen konnten. Letztlich habe ich Werner Vogels, den CTO von Amazon in den USA kontaktiert und ihm unser Problem geschildert – ihm erklärt, dass wir eigentlich auf AWS setzen möchten, aber keine Leute finden, die unseren Teams helfen können. Das hat gewirkt. Die grösste Hilfe war aber sicherlich, dass die internen Mitarbeiter keine Angst und Hemmungen hatten und sich schnell und mit hohem Aufwand weitergebildet haben.


Und wie erklären Sie sich den Rück­stand im Cloud-Bereich?
Ich denke, das hat ein wenig mit dem grundsätzlichen Protektionismus der Schweiz zu tun, was das Thema Cloud grundsätzlich schon schwierig macht und noch schwieriger, wenn die Cloud in Frankfurt und nicht in der Schweiz liegt. Dann kommen rasch Bedenken bezüglich Datensicherheit und FINMA-Auflagen, oft auch ohne dass wirklich eine Grundlage für diese Bedenken da ist. Kommt hinzu, dass in der Schweiz der Drang zu Tempo und Agilität vielleicht etwas weniger ausgeprägt ist. Sich schnell zu verändern, sich zu adaptieren, ist – nach meinen bisherigen Erfahrungen – in der Schweiz weniger Teil der Kultur. Das merken wir auch in der Software-­Entwicklung. Wenn etwas Neues gebaut wurde, gab es lange den Anspruch, dass dieses Neue von Beginn weg perfekt sein muss – Schweizer Qualitätsarbeit halt. Im Onlinegeschäft aber funktioniert das so nicht. Denn die Frage, was der Kunde will, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Also kann man auch nicht das 100 Prozent perfekte Produkt entwickeln, auf das der Markt gewartet hat. Vielmehr muss man neue Ideen mit Potential möglichst rasch und mit einer grossen Menge an Nutzern auf ihre Markttauglichkeit testen können. Das muss dann nicht perfekt aussehen und perfekt funktionieren. Denn man kann entweder in Schönheit sterben, oder wir können möglichst schnell die Funktionen entwickeln, die die Nutzer von übermorgen verlangen. Fakt ist: Wenn wir es nicht schaffen, Dinge schnell auf den Markt zu bringen, zu testen, zu verbessern oder auch mal wieder abzuschalten, werden wir links und rechts überholt.
Können Sie etwas zu aktuellen Projekten erzählen?
Das Wort Projekt mag ich nicht wirklich, das tönt immer wie etwas, das abgeschlossen ist und am Ende doch mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitert. Darum denken wir auch nicht mehr in Projekten. Doch um auf Ihre Frage zu kommen, beschäftigen uns im Moment vor allem zwei Themen. Das Re-Engineering, über das wir bereits gesprochen haben – sprich den Wechsel von unserer alten Legacy-Plattform auf eine agile Umgebung mit all den Konsequenzen, die das auf unsere Organisation hat. Davon merkt der Nutzer im Moment allerdings noch wenig, die Veränderungen spürt er höchstens im Detail – etwa, wenn er ein Suchabo eröffnet und ihm neue Objekte in wenigen Minuten statt wenigen Stunden zugeschickt werden. Die Core-User-Journey, wie wir sie nennen, ist dann das nächste Thema, das uns beschäftigen wird. Hier arbeiten wir darauf hin, dass Homegate mir als Nutzer nicht einfach nur Suchergebnisse basierend auf gewissen Suchkriterien anzeigt, sondern mir anzeigt, wo und wie meine ideale Wohnung sein könnte – vorausgesetzt ich als User möchte das und bin darum auch bereit, entsprechende Angaben zu machen, die wir brauchen, um das für ihn optimale Angebote zu zeigen. Ansonsten kann er uns weiterhin nur die Basisdaten angeben, erhält dann einfach weniger Qualität bei den Ergebnissen, weil die Auswahl eben von vornherein durch Eingaben eingeschränkt ist. Wir wollen aber gern mehr zeigen. Es wird in Zukunft sowohl für die Suchenden wie auch die Inserenten darum gehen, ob sie Qualität vor Quantität wünschen. Denn auch für Makler ist es spannender und wirtschaftlicher, anstatt 100 Leads von Wohnungsinteressenten nur fünf Leads zu bekommen, die dafür alle passen.
Wie weit wollen Sie bei diesen Themen 2019 kommen?
Wir werden das Re-Engineering der Plattform auf AWS sicherlich dieses Jahr abschliessen können. Und wir werden die User Journey bis Ende Jahr auf ein neues Level gebracht haben. Die Nutzer von Homegate werden ab dem ersten Quartal bereits spüren, das etwas passiert. Wir werden mit der Detailansicht – dem Exposé eines Objekts – anfangen, dann folgen Neuerungen in der Suche und den Ergebnislisten, und schliesslich werden wir Funktionen bringen, die den Nutzern und Kunden helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. Es ist gut möglich, dass gewissen Veränderungen bei den Nutzern zuerst für Verwirrung sorgen werden, doch wir haben uns bewusst dagegen entschieden, zwei Jahre im stillen Kämmerlein zu entwickeln. Stattdessen suchen und brauchen wir das direkte Feedback der User, um bessere Services schneller bereitzustellen.

Also wird 2019 ein spannendes Jahr?
Die Zeit danach wird noch spannender. Denn vorerst laufen wir zu einem gewissen Mass noch den Entwicklungen der internationalen Industrie hinterher. Erst wenn wir aufgeholt haben, können und werden wir damit beginnen, den wirklichen Unterschied zu machen.
Gibt es denn Themen, die Sie gerne umsetzen würden, aber aus Zeit- oder Ressourcenmangel nicht können?
Die gibt es in der Tat. Beispielsweise bin ich überzeugt, dass wir uns relativ rasch mit dem Thema Voice beziehungsweise mit dem Interface der Zukunft beschäftigen müssen. Die Maus-/Tastatur-/Bildschirm-Interfaces, die wir heute nutzen, wurden primär ja darum geschaffen, weil es sonst keine Möglichkeit gab, mit dem Computer zu interagieren. Mittlerweile sind wir aber auf dem Weg dahin, dass es diese künstlichen Interfaces nicht mehr braucht. Wir können natürliche Interfaces nutzen. Für uns ist das insofern relevant, als dass in der Übersetzung einer Eingabe über das künstliche Interface viele Informationen verloren gehen. Ein Wohnungsanbieter muss heute Angaben zu einem Objekt als harte Daten in Formulare eingeben und kann höchstens noch seinen Eindruck vermitteln, aber keine Emotionen. Spreche ich mit dem Suchenden, kommen Emotionen hoch – man spürt aufgrund der Interaktion mit dem Nutzer über die Sprache, was ihm besonders wichtig und was weniger wichtig ist. Das schafft man über ein Standard-Formular kaum. Ich würde das gerne schon heute nutzen und bin der Meinung, dass wir das beim Zusammenbringen von Anbieter und Suchendem von übermorgen nutzen müssen. Doch zuerst müssen wir noch stärker werden, bevor wir weiter angreifen können.

Jens Paul Berndt

Jens Paul Berndt ist seit Mitte 2017 Chief Technology Officer von Homegate. Davor war der 48-Jährige für die Scout24-Gruppe in Berlin und in Wien tätig. Berndt studierte in Heilbronn Medizinische Informatik und war danach knapp 20 Jahre als selbständiger Ingenieur auf Projektbasis unterwegs. Anfang der Nullerjahre war er als Software Engineering Consultant bei Volkswagen tätig. Danach arbeitete er für fünf Jahre bei Toyota, wo er erstmals mit dem Thema Lean-Software-Entwicklung in Berührung kam, das ihn bis heute nicht losgelassen hat. Im Herbst 2018 wurde er in der Schweiz im Rahmen des CIO Award 2018 als einer der Top CIOs 2018 ausgezeichnet.

Zum Unternehmen

Homegate ist der führende digitale Immobilienmarktplatz der Schweiz und zählte Ende 2018 über 100’000 Immobilienangebote und 180 Millionen Seitenaufrufe pro Monat. Das Unternehmen mit knapp 100 Mitarbeitern gehört zur Mediengruppe Tamedia, ebenfalls beteiligt ist die Zürcher Kantonalbank. (mw)


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