Hybrid oder homogen, das ist heute die VoIP-Frage

Dass der IP-Telefonie die Zukunft gehört, steht ausser Frage. Gegenwärtig machen aber auch hybride Anlagen Sinn, weil sie eine sanfte Migration erlauben.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2006/02

     

Die traditionellen PBX (Privat Branch Exchange) verschwinden langsam aber sicher vom Markt. Wer heute seine Telefonanlage erneuert, muss sich darum fast zwangsläufig mit dem Thema VoIP (Voice over IP) auseinandersetzen. Dabei stehen zwei Varianten im Vordergrund: Entweder man implementiert eine reine IP-Telefonie-Anlage oder man entscheidet sich für eine hybride Lösung, die sowohl VoIP als auch die traditionelle Telefonie beherrscht. Beide Formen haben ihre Vor- und Nachteile.
Als VoIP Ende des letzten Jahrtausends erstmals im grossen Stil lanciert wurde, stand noch ganz klar die komplette Ablösung der traditionellen Telefoninfrastruktur im Vordergrund. Viele der Pioniere, allen voran Cisco Systems, kamen aus dem IT-Netzwerklager. Sie wollten mit der in die Jahre gekommenen Telefontechnik aufräumen und im Zeitgeist des Internet-Booms in einem revolutionären Umbruch den Sprachverkehr vollständig auf die Datennetzwerke zügeln, die schliesslich auch ihre Heimdomäne sind.


Pragmatische Gegenwart

Mit dem Platzen der Internetblase hat sich aber auch der Umgang von Unternehmen mit technischen Neuerungen geändert. Revolutionäre Brüche sind nicht mehr gleich stark gefragt. Für viele Unternehmen steht heute Investitionsschutz durch eine evolutionäre Entwicklung im Vordergrund. Kein Wunder, dass darum jetzt, mitten im zweiten VoIP-Boom-Fühling, hybride Systeme im Kommen sind. So hat gemäss der Synergy Research Group der Lucent-Spin-off und traditionelle Telefoniespezialist Avaya, der hybride Systeme propagiert, Cisco in der Zwischenzeit als VoIP-Marktführer abgelöst.
Diese Entwicklung lässt sich auch aus den Veränderungen der Umsatzprognosen herauslesen. Im August 2003 ging Gartner noch davon aus, dass reine VoIP-Installationen bis 2007 die Marktführerschaft von traditionellen Systemen mit IP-Fähigkeit übernehmen würden. Die rein traditionellen PBX wären demnach schon 2005 von VoIP-Neuinstallationen überholt worden. Im Juni 2004 wurde dann aber das Überflügeln der rein traditionellen Telefonie auf das Jahr 2007 verschoben, und die gemischten Installationen werden gemäss dieser Schätzung auch noch im Jahr 2010 mehr Umsatz generieren.





Die wichtigsten IP-Telefoniehersteller


Langfristig nur noch rein

Der Trend zu hybriden Anlagen dürfte aber nur ein kurz- bis mittelfristiges Phänomen sein. Die Analysten gehen davon aus, dass sich die reinen VoIP-Installationen innerhalb des nächsten Jahrzehnts durchsetzen werden. Dies wird unweigerlich der Fall sein, weil die Hersteller im Bereich der herkömmlichen Telefonie heute gar keine Entwicklung mehr betreiben.
Ob man heute besser eine reine VoIP-Anlage oder ein hybrides System installiert, kommt auf die Umstände im Einzelfall an. Zum einen sind dabei die technologischen Voraussetzungen ausschlaggebend, die in einem Unternehmen vorhanden sind, zum anderen sind es die konkreten Bedürfnisse.





Für Kurt Bylang vom Cisco-Partner Getronics liegen die Vorteile einer reinen VoIP-Installation auf der Hand, wenn die Telefonzentrale sowieso ersetzt oder erneuert werden muss. Dann wiegen die relativ hohen Investi­tionskosten weniger stark. Auch die sowieso nötige Aufrüstung des Netzwerks ist ein guter Zeitpunkt für den vollständigen Umstieg.
Für René Zuberbühler, seit 6 Jahren beim unabhängigen Schweizer Consulting- und Engineering-Unternehmen AWK Group unter anderem im Bereich VoIP tätig, haben sich die Entscheidungsgrundlagen in den letzten Jahren nicht grundsätzlich verändert, auch wenn der Markt die Verhältnisse heute anders widerspiegelt als noch vor drei Jahren. Einzig die damals noch aktuelle Option einer vollständig traditionellen PBX steht heute für Unternehmen bei einer Neuanschaffung praktisch nicht mehr zur Wahl.





Hybride und reine IP-Telefonie im Vergleich


Die Kostenfrage

Das weitverbreitete Vorurteil, wonach IP-Telefonie grundsätzlich günstiger sei, räumt Zuberbühler bei seinen Beratungen meist gleich zu Beginn aus dem Weg. Wenn schon, dann ist in einem ersten Schritt eher das Gegenteil der Fall, denn die Geräte-Anschaffungs­kosten liegen klar noch immer über denjenigen einer konven­tionellen PBX.
Dieser Zustand dürfte noch eine Weile andauern, auch wenn die VoIP-Hardwarekosten fallen. Der Grund ist, dass für herkömmliche Anlagen keine Forschung und Entwicklung mehr betrieben wird und zudem die bestehenden und weitgehend amortisierten Produktionsanlagen genutzt werden können. So sind herkömmliche Endgeräte heute immer noch etwa ein Viertel billiger als entsprech­ende VoIP-Hardware.






Auch ob durch die Reduktion von zwei Netzwerken (Telefon und Daten) auf ein Datennetzwerk zwangsläufig Kosten gespart werden, ist eine Frage, die nicht eindeutig beantwortet werden kann. Schliesslich stellt der Sprachverkehr auch wesentlich höhere Ansprüche an die Netzwerkinfrastruktur als blosser Datenverkehr, was meist relativ grosse Investitionen in den Netzwerkausbau nötig macht. Zudem betreiben viele Firmen aus Sicherheitsgründen parallel weiterhin ein reduziertes herkömmliches Netz.
Bylang gibt aber zu bedenken, dass in die Kostenrechnung auch das Telefonieverhalten der Endanwender in den Firmen miteinbezogen werden müsse. Dieses lasse sich durch die stärker individualisierbaren IP-Telefone wesentlich vereinfachen, was je nach Unternehmen zu erheblichen Kosteneinsparungen führen kann. Zudem biete VoIP effizientere Integrationsmöglichkeiten in Geschäftsprozesse mit dem entsprechenden Kosten­reduktionspotential.


Hauptgrund Integration

Der Hauptgrund, der für VoIP spricht, ist denn heute auch nicht der billigere Preis, sondern die leichtere Integration von Applikationen oder Callcenter und die grössere Flexibilität. Obwohl auch hier nicht alles so einseitig ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein macht: Grundsätzlich lässt sich auch die konventionelle Telefonie genauso in die IT integrieren, der Aufwand ist allerdings meist grösser. Dies darum, weil bei VoIP Transport und Endgeräte auf der gleichen Applikationsebene sind und zudem offene Schnittstellen zur Verfügung stehen. So lassen sich Applikationen standardmässig verknüpfen.
Zu den Rahmenbedingungen, die klar für den Einsatz der IP-Telefonie sprechen, gehören neben dem Vorhandensein eines modernen, VoIP-fähigen Datennetzes beispielsweise auch, ob eine Organisation geografisch stark verteilt ist. Denn mit VoIP lassen sich Filialen einfach virtuell zentralisieren, ohne dass in jeder Zweigstelle eine eigene PBX installiert werden muss.


Organisationsproblem

Andererseits ist die Migration zur IP-Telefonie aber häufig auch eine organisatorische Herausforderung, der nicht alle Unternehmen ­gleichermassen gewachsen sind. Eine hybride Strategie bietet in diesem Zusammenhang im Gegensatz zu einem «Big Bang» den Vorteil, dass damit sanft migriert werden kann, indem die bestehende Installation in einem ersten Schritt um VoIP-Fähigkeiten er­weitert wird. Der komplette Umstieg ist dann in späteren Etappen möglich.
Zudem gibt es in den Unternehmen häufig Auseinandersetzungen um die Frage, welcher Firmeneinheit die VoIP-Telefonie zugeordnet werden soll. Die Telefonie gehört traditionell meist zum Hausdienst. Eine Verschiebung zur IT kann je nach dem auf beiden Seiten zu Widerständen führen. Der IT ist die Telefonie mit ihren hohen Verfügbarkeits- und Qualitätsansprüchen oft nicht geheuer.
Diese Fragestellung der Zuordnung der Telefonie zu Unternehmenseinheiten ist bei hybriden Organisationen charakteristischerweise schwieriger, weil parallel beide Systeme betrieben werden müssen. Das heisst, dass die Telefonie entweder aufgeteilt werden muss oder der Hausdienst in einem ersten Schritt auch die IP-Anlagen betreiben muss. Beides sind nicht unproblematische Szenarien.


Die Notruffrage

Nur über Workarounds wie Listen und Tabellen gelöst, ist die eindeutige Lokalisierung eines Notrufs bei verteilten VoIP-Installationen, die über ein zentrales Gateway mit dem herkömmlichen Netz verbunden sind, möglich. Dies rührt daher, dass die IP-Nummer an das Gerät und nicht an den Anschluss gekoppelt ist. Somit muss man genau Buch führen, wo ein bestimmtes Gerät zu jeder Zeit lokalisiert ist, um den Anruf einem eindeutigen Standort zuordnen zu können. Ansonsten kann es passieren, dass Feuerwehr, Polizei und Sanität in Luzern, wo das zentrale Gateway ins herkömmliche Netz stationiert ist, ausrücken, obwohl der Notruf von einem Anschluss in einer Genfer Filiale getätigt wurde.


Umstrittene Sprachqualität

Umstritten ist immer noch die Sprachqualität von VoIP. Während die Hersteller von einer vergleichbaren Qualität sprechen, wird dies von den «alten» Telefönlern in Frage gestellt. Auch aus Anwenderfirmen hört man hinter vorgehaltener Hand, dass sich VoIP doch von der gewohnten Sprachqualität unterscheide. Dies ist allerdings kaum mehr in einem Masse der Fall, dass es zu einem grundsätzlichen Problem wird. Man wird sich in dieser Beziehung vorderhand vielleicht ganz einfach mit einer niedrigeren, aber durchaus brauchbaren Qualität abfinden müssen.
Dies gilt genauso für die Verfügbarkeit. Auch hier können standardisierte IT-Anlagen nicht mit den relativ einfachen und auf ihre Aufgabe perfekt zugeschnittenen, herkömmlichen Telefonanlagen konkurrieren. Es sei denn, man investiert relativ viel Geld in ein entsprechend ausfallsicheres IP-Netz und die Serverinfrastruktur. Als Rettungsnetz im Notfall steht heute aber auch die Mobiltelefonie zur Verfügung, so dass eine totale Nichterreichbarkeit trotz beschränkt zuverlässigen IT-Komponenten unwahrscheinlich wird.





Die Telefoniesysteme im Eignungsvergleich




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