Fazit: Sehr zufrieden – trotz subjektiver Sprachprobleme

Der VoIP-Roll-out bei der CSS verlief dank einer flexiblen Projektorganisation ohne grössere Probleme. Die nicht objektiv beurteilbare Sprachqualität bereitet aber noch immer Sorgen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2004/20

     

Das VoIP-Projekt der Krankenversicherung CSS gilt als bisher grösste verteilte Installation in der Schweiz und eine der grössten in Europa. Rund 250 dezentrale Standorte werden über eine zentrale VoIP-Installation verbunden. InfoWeek hat das Projekt bisher in zwei Artikeln von der Evaluation (InfoWeek 11/04) bis zum Betatest (InfoWeek 13/04) begleitet. Der dritte Teil der Berichterstattung befasst sich nun mit dem Roll-out, bringt eine erste Analyse aus der Sicht der Projektverantwortlichen und zeigt, welche Anschlussprojekte die CSS plant.





Eine kurzer Rückblick: Urs Häsler trat Anfang Jahr eine Stelle als Projektleiter Unternehmensentwicklung bei der Krankenversicherung CSS in Luzern an. Weil er an einer seiner ersten Sitzungen Interesse an der anstehenden VoIP-Einführung zeigte, wurde ihm das bis dahin führungslose Projekt Mitte Januar 2004 übergeben. Die CSS stand unter Zeitdruck, musste doch bis Ende 2004 ein Ersatz für den bisher benutzten Centrex-Dienst von Swisscom gefunden werden, der auf diesen Termin abgeschaltet wird. Ein externer Berater hatte schon stark in Richtung VoIP vorgespurt. Häsler machte sich als erstes daran, das Projekt in allen involvierten Abteilungen und in der Geschäftsleitung zu verankern. Nach ersten Tests und einem Vergleich der Alternativen führte er einen Geschäftsleitungsentscheid zu Gunsten einer zentralen VoIP-Lösung herbei. Beim Lieferantenentscheid schwang das Duo Swisscom Enterprise Solutions/Cisco oben aus.






Nachdem die nötige Netzwerkaufrüstung vorgenommen war, führte die CSS als letzten Ausstiegspunkt im April einen Beta-Test durch. Dieser lieferte bezüglich der Sprachqualität gemischte Resultate. Auch die darauf beschlossene Wiederholung des Tests führte zu keinem eindeutig positiven Ergebnis. Weil die «Fallback-Variante» einer konventionellen Lösung mit Telefonzentralen in allen Aussenstellen aber noch weniger zu überzeugen wusste und vor allem in der kurzen Zeit kaum mehr zufriedenstellend hätte implementiert werden können, entschied sich die CSS trotzdem für den VoIP-Spatz in der Hand. Am 26. Mai 2004 gab die Projektorganisation grünes Licht für den Roll-out. In der Zwischenzeit war für die Weiterführung der Centrex-Ablösung mit Simon Lüthi vom Telekommunikations-Beratungsunternehmen Sinxcom ein externer Projektleiter eingestellt worden. Häsler stand ihm in der Folge unterstützend zur Seite, widmete sich jedoch zur Hauptsache seinem ursprünglich vorgesehenen Betätigungsfeld, dem Erstellen einer Prozesslandkarte der CSS.


Gesamtbilanz positiv

Lüthi zieht rückblickend eine positive Bilanz des Roll-outs. Es habe zwar der eine oder andere, nicht erwartete Zusatzaufwand betrieben werden müssen. Dies sei bei Projekten dieser Grösse aber normal, so Lüthi. Letztendlich habe man den Zeitplan einhalten und sogar mehr als die geplanten Funktionalitäten – mit Ausnahme des Pick-ups bei Sammelanschlüssen – ausliefern können.





Der Roll-out der rund 1100 Telefone in die etwa 250 Agenturen wurde am 1. Juni gestartet und am 9. September abgeschlossen. Als Installationspartner fungierte Atel Haustechnik, ein Tochterunternehmen des Energiekonzerns Atel, das diesen Arbeitsteil für Swisscom IT Services übernahm. Als eine der Hauptproblemquellen entpuppte sich laut Lüthi die Tatsache, dass die CSS keine eigentliche zentrale Telefonabteilung besass, weil bisher die Centrex-Dienstleistung von Swisscom genutzt wurde. So war unter anderem auch keine vollständige Erfassung aller Geräte und Anschlüsse in den Agenturen verfügbar. Eine zweite grössere Quelle von Zusatzarbeiten waren Personal- und Agenturmutationen sowie die Gründung einer neuen Geschäftseinheit im Verlauf des rund dreimonatigen Roll-outs. Und auch die Umnummerierung der bisher regionalen Agenturnummern auf die neue, zentrale 058-er-Vorwahl erforderte viel Handarbeit, musste doch vorgängig erst einmal eruiert werden, in welchen privaten Datenbanken von Agenturen und Mitarbeitern neben den zentralen SAP-, Notes- und Kundenverwaltungssystemen Telefon- und Faxnummern abgespeichert sind.






Entscheidend für den positiven Verlauf waren für Lüthi zwei Punkte: Erstens die flexible Projektorganisation, bei der immer viel Wert auf Problemlösung anstelle von Schuldanalysen respektive -zuweisungen gelegt wurde und zweitens ein Teambildungsanlass, der nach einem Drittel des Roll-outs die Beteiligten in persönlichen Kontakt brachte und so die Kommunikation und die Abläufe merklich verbesserte.


Flexible Organisation

Eine flexible Organisation des Projekts drängte sich aufgrund der historisch gewachsenen Unternehmenskultur der CSS auf. Die Versicherung ist aus einem Zusammenschluss verschiedener, regionaler Versicherer entstanden. Dementsprechend pflegen die einzelnen Regionen auch heute noch teils sehr unterschiedliche Arbeitweisen, denen bei einem gesamtschweizerischen Projekt Rechnung getragen werden muss.





Dies zeigte sich beispielsweise beim Schulungskonzept. Ursprünglich wollte man alle Anwender vor Ort in den Agenturen an den VoIP-Telefonen ausbilden. Die Befragung im Rahmen des Betatests hatte jedoch gezeigt, dass diese Variante bei den Mitarbeitern in der Deutschschweiz auf wenig Gegenliebe stiess und wohl auch vom Aufwand her nur schwer durchführbar gewesen wäre. Wie sich herausstellte, konnte nämlich auch mit einer dreistündigen Intensivschulung den Anwendern nicht der ganze Funktionsumfang beigebracht werden. Für die Vor-Ort-Variante war man ursprünglich davon ausgegangen, dass eine 15-minütige Schnellbleiche ausreicht.






In der Deutschschweiz wurde darum die Anwenderausbildung in Achtergruppen zentral an fünf Standorten durchgeführt. Die Westschweizer hingegen wollten lieber in den Agenturen ausgebildet werden. Ein Wunsch, dem die Projektleitung entsprach, hängt der Projekterfolg doch nicht unwesentlich von der Einstellung der Anwender zur neuen Technik ab. Vor allem die «Super-User», die in den einzelnen Agenturen als erste Anlaufstelle bei Problemen bestimmt worden waren, sollten eine positive Einstellung an ihre Arbeitskollegen weitergeben.





Die VoIP-Architektur der CSS


Die menschliche Komponente

Wie wichtig die menschliche Komponente in einem Projekt, das praktisch alle Mitarbeiter einer Organisation betrifft, ist, zeigte auch die Wirkung des Teambildungsanlasses, der nach einem Drittel des Roll-outs durchgeführt wurde. Dazu trafen sich alle direkt an der VoIP-Einführung Beteiligten (Hersteller, Projektorganisation, Installationsverantwortliche, Super-User) während eines halben Tages fern ab vom täglichen Arbeitsumfeld. Ein Teamcoach führte dabei verschiedene Aktivitäten und Übungen mit dem Ziel durch, die Beteiligten einander näher zu bringen und persönliche Kontakte entstehen zu lassen. Die auffälligste Veränderung, die Lüthi schon in den nächsten Tagen bemerkte, steckte im Tonfall der Mail-Kommunikation. Durch die entstandenen persönlichen Bindungen war mehr gegenseitiges Verständnis vorhanden und das Lösen von auftauchenden Problemen anstelle von Schuldzuweisungen rückte ab diesem Zeitpunkt eindeutig ins Zentrum.






Die organisatorische Flexibilität zeigte auch in einem weiteren Punkt ihre Vorteile. So entwickelten sich die Installateure der Atel Heimtechnik auf Grund ihrer Stellung innerhalb des Roll-out-Ablaufs mit der Zeit zu den eigentlichen Scharnieren, die das Projekt zusammenhielten und den Takt bestimmten. Sie übernahmen so auf natürliche Weise die Koordination von Gerätebestellung, Agentur-Benachrichtigung und gaben der Schulungsplanung den Terminfahrplan vor.
In Sachen Funktionalität konnte mit Ausnahme des Pick-ups auf dem Sammelanschluss sogar mehr implementiert werden, als ursprünglich im Projektauftrag gefordert wurde. So verfügt jetzt jeder Anschluss über eine persönliche Voice-Mailbox und auch die Direktwahl aus Notes ist möglich. Für die fehlende direkte Anrufübernahme (Pick-up) eines Anrufs auf dem Sammelanschluss wurde ein Work-around programmiert. Anrufe auf den Sammelanschluss können so direkt an alle Mitarbeiter einer Agentur gleichzeitig übermittelt werden.


Subjektive Sprachqualität

Getrübt wird die insgesamt positive Bilanz durch die immer noch nicht befriedigend gelöste Frage der Sprachqualität. Wie schon während der Betatests beschweren sich auch heute noch einzelne Anwender über nicht reproduzierbare Rausch- und Knacktöne sowie Verzerrungen. Das eigene Netzwerk habe man physikalisch im Griff. Daran könne es nicht liegen, schränkt Lüthi den Problemkreis ein. Unbefriedigend sei vor allem, dass man bisher nur subjektive Einzelmeldungen zur Beurteilung zur Verfügung habe. Und auch eine weitere Befragung sämtlicher VoIP-Nutzer zu diesem Thema, die Ende Oktober abgeschlossen sein wird, könne zwar den Umfang der Störungen erfassen, aber nicht unbedingt die Schwere, da auch sie auf subjektiven Urteilen beruhe. Technische und damit objektive End-to-End-Messungen von einem VoIP-Netz in das konventionelle öffentliche Netz sind aber schwierig. Es gibt nur wenige Anbieter, die dies können. Im November sind entsprechende Tests mit dem auf Messtechnik spezialisierten Dienstleister Emitec aus Rotkreuz geplant. Mit diesen Resultaten in der Hand hofft Lüthi, das Problem eingrenzen und dann auch abschliessend lösen zu können.





CSS-VoIP-Fahrplan


Callcenter und Hauptsitz

Nach dem Abschluss des Roll-outs stehen bei der CSS noch einige Nacharbeiten an. So werden zusätzliche Gateways nötig sein, damit das erhöhte Sprachaufkommen verkraftet werden kann, das mit der auf das nächste Jahr geplanten VoIP-Umstellung der Callcenter und des neu erstellten Hauptsitzes Tribschenstadt in Luzern anfallen wird. Im weiteren muss eine Lösung für einen Single-Point-of-Failure gefunden werden, der heute aus Architekturgründen beim nicht redundanten Publisher-Server besteht. Cisco sei dabei, eine Lösung für dieses Verfügbarkeitsrisiko zu finden, erklärt Lüthi.
Das Centrex-Ablösungs-Projekt findet seinen Abschluss mit dem Rückbau der 80 alten Telefonanlagen in den Agenturen. Dies bedeutet aber nicht den Abschluss der VoIP-Aktivitäten bei der CSS. Bereits im November werden mit zwei neuen Projekten im neuen Hauptsitz und in den Callcentern VoIP eingeführt. Vor allem die Anbindung der Callcenter wird wesentlich höhere Funktionalitätsanforderungen stellen als dies bei den Agenturen der Fall war. Schliesslich waren die zu erwartenden funktionalen Vorteile durch die Einbindung des CRM-Systems der Callcenter in die VoIP-Infrastruktur einer der wichtigsten Gründe, die für den Einstieg in die Internettelefonie sprachen.
InfoWeek wird noch einmal über die Centrex-Ablösung berichten, wenn der Projektabschlussbericht vorliegt und damit endgültig Bilanz gezogen werden kann.




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