Der erste Schritt zur Gesundheitskarte

In der Schweiz wird 2008 eine Versichertenkarte für das Gesundheitswesen eingeführt. Es gibt aber noch zahlreiche offene Fragen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/18

     

Ein Ende der Kostenspirale ist mit dem aktuellen Gesundheitssystem nicht zu erwarten – im Gegenteil, zahlreiche Mängel im heutigen Gesundheitswesen, die demografische Entwicklung und die Zunahme chronischer Krankheiten werden die Kosten in den kommenden Jahren weiter massiv steigen lassen.
Einen ersten Schritt für eine Lösung zumindest im Bereich der mangelnden Effizienz im heutigen Gesundheitswesen hat der Bundesrat am 22. Juni dieses Jahres gemacht. Damals wurde das Grobkonzept für die Einführung der Versichertenkarte in der Krankenversicherung verabschiedet. Bereits ab 2008 muss jeder Versicherte die Karte vorweisen, um Leistungen von Ärzten, Spitälern und Apotheken in Anspruch nehmen zu können. Die Versichertenkarte ist damit das erste E-Health-Projekt auf eidgenössischer Ebene.


Vision elektronisches Gesundheitsnetzwerk

Dahinter steht eine grosse Vision: Irgendwann soll die Gesundheitskarte als Zugangsschlüssel zu einer elektronischen Patientenakte fungieren, die in einer Datenbank gespeichert ist und sämtliche Behandlungs- und Abrechnungsdaten, Infos über verschriebene Medikamente sowie eine Dokumentation über alle Zugriffe auf die Akte enthalten soll. Bestandteil dieser Datenbank könnte zudem beispielsweise auch ein Wissensnetzwerk für Ärzte werden, das etwa Informationen zu Medikamentenwechselwirkungen, Diagnosen und Therapien zur Verfügung stellt. Bei der Verschreibung von Medikamenten könnte in einem solchen System automatisch geprüft werden, ob diese verträglich sind. Der Arzt könnte ausserdem Befund, Leistungen und Arzneimittelverschreibung direkt ins System diktieren und weitere Dokumente anhängen. Die Apotheke wiederum greift auf das elektronische Rezept zurück, und die Krankenkasse erhält die für die Abrechnung benötigten Daten automatisch zugestellt.





Ein solches Gesundheitsnetzwerk würde den Visionären zufolge zahlreiche Vorteile bieten: Die Vereinfachung der administrativen Abläufe führt zu einer höheren Effizienz und damit zu Kosteneinsparungen, Medienbrüche würden ebenso eliminiert wie unnötige Mehrfachkonsultationen – nicht zuletzt könnte der Patient dadurch von einer höheren Qualität der medizinischen Versorgung profitieren.
Die Karte des Versicherten dient dabei nicht nur der Authentifizierung für dieses Gesundheitsnetzwerk, sondern soll auch einen Notfalldatensatz enthalten, in dem beispielsweise die Blutgruppe, Allergien oder Medikamentenunverträglichkeiten gespeichert werden. Verschiedene Verschlüsselungs- und Authentifikationsverfahren sollen für ein
Höchstmass bei Datenschutz und Datensicherheit sorgen, und der Versicherte könnte mit Hilfe von Sicherheitsprofilen über Internetportale selber festlegen, wer auf welche Informationen im System Zugriff erhalten soll.






Ein ähnliches System wird beispielsweise in der italienischen Region Lombardei nach mehrjährigen Pilotversuchen seit 2003 implementiert. Bis Ende 2005 werden dort sämtliche Bürger, Ärzte, Apotheker und Angestellte im Gesundheitswesen mit einer Gesundheitskarte ausgerüstet sein – insgesamt nicht weniger als 9 Millionen Karten. Auch in anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich und Österreich werden derartige vollwertige Gesundheitskarten derzeit evaluiert oder bereits eingeführt.


Politik der kleinen Schritte

Ganz so weit wie ihre Nachbarländer geht die Schweiz allerdings (noch) nicht. Im entsprechenden Gesetzesartikel (Art. 42a KVG), den das Parlament im Oktober 2004 verabschiedet hat, ist zunächst nur von einer Versichertenkarte die Rede, die den Namen der versicherten Person und eine vom Bund vergebene Sozialversicherungsnummer (voraussichtlich die neue AHV-Nummer) enthält. Alleiniger Zweck einer solchen Karte ist damit die eindeutige Identifikation des Versicherten und die Vereinfachung von administrativen Abläufen bei der Abrechnung von Leistungen – weniger Fehler bei der Datenerfassung, einfachere Handhabung der Daten und eine höhere Datenqualität stehen im Vordergrund.





Das Parlament zeigte mit der Verabschiedung des Artikels angesichts der Entwicklung im Ausland und der mittlerweile laufenden Gesundheitskarten-Projekte in den Kantonen Genf und Tessin den Willen, eine gesamtschweizerische Lösung anzustreben. Sie genügt allerdings aus politischen Gründen vorerst eher rudimentären Anforderungen. Immerhin ist in Absatz 4 des genannten Gesetzesartikels von persönlichen Daten die Rede, die künftig auf der Karte integriert werden könnten – der spätere Ausbau von der Versicherten- zur Notfallkarte wurde vom Gesetzgeber also explizit vorgesehen. Für einen noch weitergehenden Ausbau zur vollwertigen Gesundheitskarte mit dahinterliegendem Gesundheitsnetzwerk fehlen derzeit allerdings noch die Rechtsgrundlagen.






Abgesehen davon, dass sie als Grundlage für Weiterentwicklungen möglichst offen sein soll, muss allerdings auch die für 2008 geplante Versichertenkarte verschiedenen Anforderungen genügen. Im Vordergrund steht dabei die internationale Kompatibilität: Bereits 2006 wird eine europäische Krankenversicherungskarte eingeführt, deren Minimalversion auch die Schweiz übernehmen muss. Dabei handelt es sich um eine simple Karte mit einem Basissatz von Daten wie Name und persönlicher Kenn-Nummer, Geburtsdatum, Versichertennummer etc., die als Sichtdaten vorhanden sein müssen. Ausserdem ist zu vermuten, dass die Euro-Kompatibilität auch bei der Chip-basierten Karte beibehalten
und die Schweizer Lösung von den Erfahrungen in Frankreich und Deutschland profitieren und sich mittelfristig ebenfalls in diese Richtung weiterentwickeln wird.




Das kommt auf die Versichertenkarte


Medizinische Daten freiwillig

Die Schweizer Versichertenkarte ist so konzipiert, dass sie alle nötigen Administrativdaten und einen limitierten Satz mit freiwilligen medizinischen Daten (Notfalldaten) in einem Speicherchip und teilweise zusätzlich als Sichtdaten enthält (vgl. Kasten). Dahinter steht die Überlegung, dass die Karte so einerseits der Abrechnung medizinischer Leistungen dient, später aber jederzeit zur vollwertigen Gesundheitskarte ausgebaut werden kann. Vom Direkteinstieg zur Gesundheitskarte, der vom Bundesrat ebenfalls geprüft wurde, hat man wieder Abstand genommen, weil die damit verbundene obligatorische Speicherung sensibler Gesundheitsdaten die Akzeptanz der Karte erschweren könnte.
Die Karte wird ein Foto des Versicherten enthalten, wodurch eine Reduktion des Missbrauchs beim Bezug von medizinischen Leistungen angestrebt wird. Für die Authentifikation ist ein PIN-Code vorgesehen, der den Lese- und Schreibzugriff auf die geschützten Daten ermöglicht. Wird die Karte etwa beim Arzt zur Eingabe von freiwilligen medizinischen Daten benötigt, ermächtigt der Versicherte diesen durch die Eingabe seines PIN-Codes zum Datenzugriff, während sich gleichzeitig der Arzt mit seiner «Health Professional Card» beim System ausweisen muss. Im Notfall – beispielsweise, wenn der Patient nicht ansprechbar ist – kann ein Arzt auch ohne dessen Einwilligung auf die geschützten Daten zugreifen, muss diesen Bruch mit den Regeln aber im System dokumentieren und begründen. Krankenversicherungen erhalten aus Datenschutzgründen keinen Einblick in die medizinischen Informationen.






Im Gegensatz dazu haben Leistungserbringer und Versicherer auch ohne explizite Einwilligung des Versicherten Zugriff auf dessen administrative Daten. Der Bundesrat sieht deshalb auch eine Pflicht zum Gebrauch der Karte für die Abrechnung von medizinischen Leistungen vor – der Karteneinsatz beim Bezug von Leistungen soll dagegen freiwillig bleiben.
Über die technische Umsetzung der Versichertenkarte ist bisher nichts bekannt, ebensowenig über die Kosten. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) geht in einem Zwischenbericht aufgrund einer unabhängigen Studie von einer Gesamtsumme von über 53,7 Millionen Franken aus – zu finanzieren von den Versicherern und Leistungserbringern sowie allenfalls den Versicherten und den Kantonen.


Ärzte eher skeptisch

Wie die Erfahrungen zeigen, ist die Umsetzung einer Versichertenkarte, noch viel mehr aber einer vollwertigen, umfassenden Gesundheitskarte weniger ein technisches als ein politisches Problem. Und gerade in diesem Bereich ist in der Schweiz noch eine Menge Überzeugungsarbeit zu leisten – denn je sensibler und komplexer die Daten, die auf
der Karte respektive im künftigen Netzwerk gespeichert werden
sollen, desto grösser wird der
Widerstand, und zwar nicht nur bei Datenschützern.
Insbesondere auch in der Ärzteschaft stossen die Pläne für die Versichertenkarte auf wenig Gegenliebe. Dies hat beispielsweise die Dienstleistungsorganisation der Aargauer Hausärzte «argomed» in einer nicht repräsentativen Umfrage herausgefunden. Die Resultate zeigen, dass eine Karte mit reinen administrativen Daten zwar Unterstützung findet, aber bereits die Erfassung von Behandlungsdaten auf Skepsis stösst. Je komplexer die zu erfassenden Daten werden, desto tiefer sinkt die Zustimmung der Ärzte. Der mögliche Nutzen von Informationen wie etwa einer Medikamentenliste oder gar Untersuchungsbefunden wird zwar durchaus gewürdigt – gleichzeitig wird aber auf die zahlreichen noch ungeklärten Probleme hingewiesen. So befürchten etwa viele Ärzte einen immensen administrativen Aufwand und riesige Mehrkosten für deren Bewältigung, während andere sich um die Aktualität der Daten und das Arztgeheimnis sorgen. Und nicht zuletzt stellen sie die Haftungsfrage: Wer haftet für veraltete, unvollständige oder falsche Daten auf der Patientenkarte, auf die der behandelnde Arzt sich verlässt?
Fragen, auf die auch der Bund noch keine Antwort weiss.


Die verschiedenen Kartentypen

Um die Gesundheitskarte ist ein eigentlicher Begriffs-Wirrwarr entstanden, verschiedene Kartentypen und die dahinterliegenden Konzepte werden immer wieder vermengt und verwechselt.


• Versichertenkarte: Enthält nur administrative Daten zur eindeutigen Personenidentifikation. Dient über die Sozialversicherungsnummer der Standardisierung
der Kommunikation zwischen Leistungserbringer (Arzt, Spital etc) und Versicherer und kann so
den administrativen Aufwand reduzieren.


• Patienten- oder Notfallkarte: Versichertenkarte mit zusätzlichen Notfalldaten, beispielsweise Angaben über Blutgruppe, Allergien, Medikamentenunverträglichkeiten, Krankheiten, Organspenden, Kontaktadressen etc.


• Gesundheitskarte: Beinhaltet die Elemente der Notfallkarte, dient zusätzlich aber auch als Zugangsschlüssel zu einem Patientendossier in einem abgesicherten Gesundheitsnetzwerk, wobei die Zugriffsrechte und die Datenbearbeitung detailliert geregelt werden müssen.


• Health Professional Card (HPC): Zusatzkarte für Leistungserbringer wie Ärzte oder Apotheker. Nötig, um Datenschutz und Datensicherheit sicherzustellen.




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