Editorial

Midori: Mehr als ein Sommerlochfüller?


Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2008/16

     

Dass ein Sommerloch journalistische Blüten wie Seeungeheuer, Krokodile im Rhein und Braunbären, die deutsche Wälder unsicher machen, hervorbringt, ist allgemein bekannt, dass das letzte Sommerloch aber nicht weniger als den potentiellen Nachfolger unseres heissgeliebten Windows gebar, hat auch mich ein wenig überrascht. Es war natürlich kein Zufall, dass Ende Juli aus Redmond ein neues Buzzword über befreundete Kanäle in die Blogosphäre sickerte und es von dort kurze Zeit später auf die Titelseiten der Tageszeitungen und Fachmagazine in der ganzen Welt schaffte. Hinter Midori, so viel für alle, die die sommerliche und höchst inoffizielle Charme-Offensive der Microsoft-PR-Abteilung wider Erwarten verpasst haben, steckt ein neues Betriebssystemkonzept, das extrem modular aufgebaut ist, konsequent auf Managed Code setzt, Virtualisierung nutzt und vor allem keinerlei Altlasten aus dem jetzigen Windows übernehmen soll. Kurz, es klingt fast zu schön, um wahr werden zu können. Auch wenn Midori, sollte es jemals aus dem Status eines Inkubationsprojekts herauskommen, noch über zehn Jahre auf sich warten lassen dürfte, stellt sich natürlich die Frage, warum es zu einem Zeitpunkt lanciert wird, zu dem die Fertigstellung des Vista-Nachfolgers Windows 7 auf Hochtouren läuft.



Wie immer gibt es dafür gleich mehrere Gründe. Fakt ist, dass Microsoft mit Vista nicht gerade der grosse Wurf gelungen ist und sich mit dem XP-Nachfolger ein massives Imageproblem geschaffen hat. Von der Klarheit für unsere Welt, die in den Werbekampagnen vor der Vista-Einführung versprochen wurde, ist im endgültigen Release leider nicht viel übriggeblieben. Für Anwender wie für IT-Profis ist es leicht, über Vista zu schimpfen, die wahren Ursachen liegen etwas tiefer und sind rein technischer Natur. Das Fenstersystem, das bereits Mitte der 80er Jahre für Windows 1.0 geschaffen wurde und mit dem auch Vista auskommen muss, ist hoffnungslos veraltet, auch wenn es seine Aufgabe nach wie vor gut erfüllt. Die Windows-API ist mit ihren (geschätzten) 50’000 Funktionen unübersehbar geworden.




Selbst Microsoft-Entwickler dürften da nicht mehr durchblicken. Das deutlich modernere, geordnetere und auf einer virtuellen Maschine basierende .NET Framework böte eine Alternative, wird aber für die Anwendungsentwicklung bei Drittanbietern kaum genutzt. 90 Prozent aller Anwendungen werden mit C++ basierend auf der MFC oder direkt der API entwickelt. Anders als Apple schrieb Microsoft den Entwicklern bei Drittherstellern nie vor, wie sie etwas zu programmieren hatten. Das führte zwar zu einer explosionsartigen Verbreitung von Windows-Software Anfang der 90er Jahre und sicherte Microsoft das heutige Monopol, führte aber auch dazu, dass die Microsoft-Entwickler für die unsauberen Programmiertechniken ihrer Kunden büssen müssen, indem sie APIs nicht einfach ausrangieren oder kleinere Fehler beheben können, weil dann uralte, aber immer noch im Einsatz befindliche Branchenpakete nicht mehr laufen würden.



Auch ein «Windows 7» wird daran nichts ändern, trotz einer in Aussicht gestellten Mini-Win-Edition. Seine Hauptaufgabe besteht darin, verlorenes Vertrauen vor allem bei den IT-Profis zurückzugewinnen, denn ein weiteres Update, das keiner will, wird sich Microsoft nicht erlauben können.
Spätestens auf der PDC, die Ende Oktober in Los Angeles über die Bühne geht, wird sich zeigen, ob «Windori» in der Keynote von Ray Ozzie erwähnt und damit als echtes Microsoft-Projekt geadelt wird, oder ob es sich zu den Seemonstern, Braunbären und anderen Sommerlochthemen gesellt.




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