CIO-Interview: 'Im Notfall geht es um jede Sekunde'
Quelle: Schutz & Rettung Zürich

CIO-Interview: "Im Notfall geht es um jede Sekunde"

Martin Schellenberg ist CIO von Schutz & Rettung Zürich und erklärt, wieso Kommunikation zentral und die eingesetzte Technologie hochmodern ist.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2018/04

     

"Swiss IT Magazine": Der Betrieb von Schutz & Rettung Zürich muss 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche lückenlos gewährleistet sein. Welchen Stellenwert hat die IT in diesem Kontext?
Martin Schellenberg: Wir sprechen von ICT, und zwar deshalb, weil das C, das für Communication steht, in unserem Bereich enorm wichtig ist. Sie hat einen hohen Stellenwert, weil sie eine wichtige Unterstützungsfunktion hat für die Rettungskräfte, die rund um die Uhr für ein Dispositionsgebiet mit rund zwei Millionen Menschen in der Schweiz im Einsatz sind. Wir konzipieren aber auch Grossanlässe und stellen im Hintergrund die gesamte Disposition der Einsatzkräfte sicher, so zum Beispiel an der Street Parade oder am Züri Fäscht. Darüber hinaus betreiben wir auch ein sogenanntes TOC (Tactical Operations Center), wo mehrere Spezialisten eben solche Grossanlässe betreuen. Die ICT sowie eine reibungslose Kommunikation sind in all diesen Bereichen zentral. Die ICT ist auch insofern wichtig, als dass die meisten einsatzkritischen Prozesse bei Schutz & Rettung mittlerweile digitalisiert sind, weil es im Notfall um jede Sekunde geht. Der Zeitfaktor ist die grösste Herausforderung für uns, in dem Sinne, dass die Zeit gegen die Menschen spielt, die gerettet werden müssen. Von dem Moment an, wenn ein Notruf bei uns eingeht, haben die Calltaker maximal 180 Sekunden Zeit, um sich im Gespräch mit dem Anrufer ein Bild der Lage zu verschaffen und in Zusammenarbeit mit dem Disponenten die richtigen Rettungsmittel zu alarmieren und zu mobilisieren. Diese müssen dann wiederum in maximal zehn Minuten am Einsatzort eintreffen. Der gesamte Prozess wird in unseren Datenbanken aufgezeichnet und danach in einem Data Warehouse ausgewertet. Eines unserer Ziele ist, diese Zeitfenster weiter zu optimieren. Hierbei sollen uns unter anderem die Umsetzung unserer Standortstrategie mit mehr dezentralen Wachen und die Informations- und Kommunikationstechnologie helfen.
Wie sind Sie zu Schutz & Rettung gekommen und welche Prioritäten setzen Sie als Leiter ICT?
Ich komme ursprünglich aus einem technischen Berufszweig und bin als Quereinsteiger zur Informatik gekommen, denn zu der Zeit gab es noch kein Informatik Studium. Ich habe in einer IT-Dienstleistungsfirma gearbeitet und dann das Studium nachgeholt. Danach habe ich während rund 20 Jahren in der Maschinenindustrie als IT-Leiter in einem internationalen Konzern gearbeitet. Mit gut 50 Jahren wollte ich schliesslich die Weichen noch einmal neu stellen und eine andere Branche kennenlernen. Vor allem wollte ich aber näher am Menschen arbeiten, weshalb mich diese Stelle, die ich nun seit rund drei Jahren innehabe, so fasziniert. Es ist hauptsächlich unser Auftrag, Menschen, Tiere, Sachwerte und die Umwelt zu schützen und zu retten, der mich anspornt. Die ICT zielgerichtet einzusetzen, um diesen Auftrag zu erfüllen, ist äusserst spannend. Eine meiner Hauptaufgaben war es bisher, zusammen mit der Geschäftsleitung die ICT-Strategie weiterzuentwickeln und so zukünftige Schwerpunkte zu setzen. Operativ ist es meine Verantwortung, weitere Geschäftsprozesse zu automatisieren und digitale Innovationen voranzutreiben. Ausserdem bin ich dafür zuständig, die hohen Standards, die wir haben – beispielsweise in puncto Verfügbarkeit –, beizubehalten beziehungsweise durch den Einsatz von neuen Technologien weiter zu verbessern.


Wie ist Ihre Abteilung organisiert und wie viele Mitarbeiter haben Sie?
Schutz & Rettung ist eine Dienstabteilung des Sicherheitsdepartements der Stadt Zürich, zusammen mit der Stadtpolizei, der Dienstabteilung Verkehr und dem Stadtrichteramt. Die ICT von Schutz & Rettung beschäftigt gesamthaft 16 Mitarbeitende und zwei Lernende, die in drei Teams unterteilt sind. Es gibt ein Team für Alarmierungs- und Einsatzsysteme, das einsatzkritische Systeme betreut, eines für Fachapplikationen und Auswertungen, das für die geschäftskritischen Applikationen zuständig ist, und nicht zuletzt eines für Support und Infrastruktur. Wir erbringen Dienstleistungen für 650 Mitarbeitende von Schutz & Rettung sowie rund 20‘000 angeschlossene Rettungskräfte. Nach aussen hin mag das nicht so erscheinen, aber wir haben eine sehr anspruchsvolle ICT-Architektur, die auf dem neusten Stand der Technik ist, und benötigen dadurch auch hochmotivierte und qualifizierte Mitarbeitende. In gewissen Bereichen setzen wir gar Standards, nicht zuletzt bedingt durch unsere Grösse, denn Schutz & Rettung ist die grösste zivile Rettungsorganisation der Schweiz. Selbst aus dem nahen Ausland kommen immer wieder Spezialisten zu uns, um sich über die neuesten Entwicklungen zu informieren.
Welche Systeme betreuen Sie und wie sind diese technisch aufgestellt?
Wir betreiben eine sehr vernetzte Systemlandschaft um das Einsatzleitsystem, das gegen Ausfälle optimiert sind, mit zwei eigenen, georedundanten Rechenzentren, eines am Flughafen und eines in der Stadt Zürich. Ausserdem unterhalten wir ein hochverfügbares Sprachsystem, über das die Notrufe 144 (Sanität) aus den vier Kantonen Schaffhausen, Zürich, Zug und Schwyz und 118 (Feuerwehr) für den Kanton Zürich eingehen. Im Jahr 2017 verzeichneten wir über 126’000 Notrufe und gut 210’000 übrige Anrufe. Im Einsatzleitsystem sind auch Funk, Paging und der Sprachalarm integriert, also die gesamte Alarmierung der Rettungskräfte. Es gibt aber auch Bereiche, die noch heterogen und nicht sehr gut integriert sind. Hier versuchen wir nach und nach, Standardtechnologien einzusetzen und Applikationen zu konsolidieren. Rund 180 Fachapplikationen ermöglichen es, das breite Aufgabengebiet der Blaulichtorganisation optimal zu unterstützen. Darüber hinaus hat Schutz & Rettung rund 5000 Geräte wie Mobiltelefone, Funkgeräte, Pager, Notebooks oder Computerarbeitsplätze im Einsatz, die wir betreuen.


Welche Abhängigkeiten haben die Systeme und Ihre Organisation zu anderen IT-Bereichen der Stadt oder des Kantons?
Wir arbeiten eng mit Organisation und Informatik der Stadt Zürich (OIZ) zusammen. Sie erbringen Basisdienstleistungen möglichst zentral, während Schutz & Rettung für die ganzen Branchenlösungen zuständig ist. Je mehr etwas standardisiert ist, umso mehr fällt es in den Zuständigkeitsbereich von OIZ, weshalb sie für uns ein sehr wichtiger Partner ist. Wir beziehen alle Dienste wie die Office-Umgebung, das Hosting von Fachapplikationen oder das ZüriNetz von ihr. Aber auch gewisse Sondernetze, die wir hier betreiben, unterhalten wir zusammen mit OIZ. Darüber hinaus haben wir als weiteren Partner ein Generalunternehmen im Bereich des Einsatzleitsystems, nämlich HxGN Schweiz, mit dem wir ebenfalls sehr eng zusammenarbeiten und aktuell das Einsatzleitsystem mit einem Releasewechsel auf den neusten Stand bringen. So hat ein Team von HxGN ständige Entwicklungsarbeitsplätze in unseren Räumlichkeiten. Ein weiterer Bereich, in dem wir eng mit Partnern zusammenarbeiten, ist die sogenannte Fallübergabe, also wenn ein Fall an eine andere Einsatzleitzentrale übergeben werden muss, zum Beispiel der Stadtpolizei oder einem Nachbarkanton.
Welche Akteure sind in der Weiterentwicklung der ICT von Schutz & Rettung involviert?
Hierbei arbeiten wir sehr eng mit unseren internen und externen Partnern zusammen. Die ICT-Strategie haben wir zusammen mit den wichtigsten Anspruchsgruppen entwickelt. Ein konkretes Beispiel hierfür ist eine App für Einsatzleiter, an der wir derzeit arbeiten und in der verschiedene Informationen zusammenlaufen, anhand derer sich die Leiter eines Einsatzes schnell einen Überblick über die jeweilige Situation verschaffen können. Momentan müssen sich die Einsatzleiter noch über verschiedene Systeme informieren, die wir in der App integrieren möchten. Die Zusammenarbeit mit den Partnern ist in solchen Fällen von grossem Wert und eine Stärke unserer Strukturen und engen Kooperationen.


Was bedeutet das breite Thema "Digitalisierung" für Ihren Bereich? Wo gibt es noch Nachholbedarf?
Bei Schutz & Rettung sind die meisten Hauptprozesse bereits digitalisiert. Es gibt aber Ebenen, auf denen noch Verbesserungspotenzial besteht, so zum Beispiel bei administrativen Prozessen oder im HR-Bereich, wir arbeiten jedoch daran. Ohnehin entwickeln wir unsere Prozesse und Systeme ständig weiter. Besonders wichtig ist dabei die nähere Einbindung unserer Partnerorganisationen. Darunter fällt beispielsweise auch die Koordination der Rettungskräfte mit den Spitälern. Zentrales Thema hier ist, den Kommunikationsfluss immer weiter zu digitalisieren. Ein weiteres Beispiel sind Kranken- oder Organtransporte. Dafür sind wir gerade daran, ein System in der Cloud aufzubauen, an das alle Partnerorganisationen angeschlossen werden. Diese können zukünftig einen Transport mit dem entsprechenden Transportmittel anfordern und das System zeigt auf, welcher Rettungsdienst oder welche Partnerorganisation über die nötigen Kapazitäten für den Transport verfügt und diesen am effizientesten durchführen kann. Natürlich schauen wir aber auch voraus und setzen uns mit neuen Technologien wie zum Beispiel Augmented Reality, Data Analytics oder dem Internet of Things auseinander, die uns helfen können, die Rettungskräfte in ihrer Tätigkeit noch besser zu unterstützen. Eine grosse Herausforderung bei solchen Digitalisierungsprojekten ist dabei immer der Informations- und Datenschutz, denn in vielen Fällen arbeiten wir mit vertraulichen Personendaten, die es zu schützen gilt.
Wie wird der ICT-Apparat von Schutz & Rettung finanziert?
Die Politik der Stadt Zürich spricht die Mittel für Schutz & Rettung, sprich für das Personal und das ICT-Budget. Wir werden aber nicht nur von der Stadt finanziert, sondern auch von den Vertragsgemeinden und Kantonen, mit denen wir zusammenarbeiten. Auch haben wir einen Auftrag von der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich (GVZ) für den Betrieb der Notrufnummer 118 und einen von der Gesundheitsdirektion. In der Betriebsrechnung werden aber auch Aufwände für den Betrieb der Notrufnummer 144 in den Partnerkantonen Schaffhausen, Schwyz und Zug ausgewiesen.


An welchen Projekten arbeiten Sie aktuell, und was ist in naher Zukunft noch geplant?
Aktuell haben wir gerade ein Projekt mit dem Rettungsdienst in Angriff genommen. Man muss sich vorstellen, dass die Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter bis anhin bei einem Rettungseinsatz das Patientenprotokoll von Hand auf ein Formular mit Durchschlägen geschrieben haben. Heute gibt es das sogenannte Ambulance Pad, auf dem alle vitalen Daten digital erfasst und direkt dem Krankenhaus übermittelt werden. Dadurch können sich die Ärzte auf die Patienten einstellen und vorab die nötige Ausrüstung bereitstellen, zumal sie durch das Tracking der Einsatzfahrzeuge auf einem Infomonitor sehen können, wann diese eintreffen. Gleichzeitig laufen bei uns alle rückwärtigen Prozesse, wie beispielsweise die Verrechnung, ebenfalls digital und automatisch ab, und zwar ohne Medienbruch. Das heisst, es müssen keine Daten manuell erfasst oder verarbeitet werden. Ein weiteres Projekt ist die Standortstrategie SRZ. So sollen neue, dezentrale Wachen an strategischen Punkten entstehen, um ein engmaschiges Netz schnell verfügbarer Rettungsmittel zu spannen. Denn Fakt ist: Die Stadt Zürich wächst weiter und auch die Anzahl der Notrufe nimmt zu. Dass Zürich weltweit zu den Städten mit der höchsten Lebensqualität gehört, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die öffentliche Sicherheit sehr hoch ist – ein Faktor, der die Lebensqualität entscheidend beeinflusst. Um diese weiterhin zu gewährleisten, arbeiten wir unter anderem im Auftrag der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich auch an der sogenannten Nächst-Best-Strategie mit. Diese sieht vor, dass bei zeitkritischen Einsätzen das am schnellsten verfügbare geeignete Rettungsmittel am Boden oder aus der Luft zum Einsatzort disponiert und der Patient in das nächstgelegene geeignete Spital überführt wird. Das oberste Ziel bleibt dabei immer, den in Not geratenen Menschen schnellstmöglich die geeignete Hilfe zukommen zu lassen.

Martin Schellenberg

Martin Schellenberg ist 1965 geboren und machte eine Ausbildung zum Maschinenmechaniker. Danach wechselte er als Quereinsteiger in ein IT-Dienstleistungsunternehmen, holte später ein Informatik Studium nach und ergänzte dieses mit der Zusatzausbildung zum Innovation Facilitator. Rund zwei Jahrzehnte arbeitete er daraufhin in der Maschinenindustrie in verschiedenen IT-Leitungsfunktionen, bevor er 2014 Leiter ICT bei Schutz & Rettung wurde.


Schutz und Rettung Zürich

Schutz & Rettung vereint Feuerwehr, Rettungsdienst, Zivilschutz, Einsatzleitzentrale 144/118 und Feuerpolizei der Stadt Zürich sowie die Rettungsorganisationen des Flughafens Zürich mit ihren Einsatzgebieten und Dienstleistungen unter einem Dach. Der Auftrag von Schutz & Rettung ist der Schutz und die Rettung von Menschen, Tieren, Sachwerten und der Umwelt, und das rund um die Uhr. Schutz & Rettung ist die grösste zivile Rettungsorganisation der Schweiz und als Dienstabteilung des Sicherheitsdepartements der Stadt Zürich in die Notfall- und Katastrophenorganisation von Stadt und Kanton Zürich sowie dem Bund eingegliedert. (luc)


Artikel kommentieren
Kommentare werden vor der Freischaltung durch die Redaktion geprüft.

Anti-Spam-Frage: Welche Farbe hatte Rotkäppchens Kappe?
GOLD SPONSOREN
SPONSOREN & PARTNER