Zettelwirtschaft und Gärtlidenken

Politik, Territorialdenken und eine generelle Skepsis gegenüber voll digitalisierten Prozessen bremsen die IT-Zusammenarbeit von Spitälern.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2005/18

     

Die Krankenkassenprämien steigen auch nächstes Jahr um mehr als fünf Prozent. Ein guter Teil der Gesundheitskosten fällt in den Spitälern an – und dies nicht nur, weil zu viele Eingriffe verordnet und durchgeführt werden: Mit kostensparender Zusammenarbeit hapert's im Schweizer Spitalwesen, und das gilt gerade auch für die IT. Nur dort, wo statt Konkurrenzdenken, Polit-Games und Festhalten an der bisherigen Arbeitsweise sachbezogenes Teamwork herrscht, führen Kooperationsprojekte zum Erfolg.


Föderalismus und Imponiergehabe

Analog zum E-Government stellt das föderalistisch organisierte Spitalwesen der grossräumigen Zusammenarbeit zwischen Spitälern a priori ein gewisses Hindernis entgegen – je nach Kanton gelten zum Beispiel auch im Tarmed-Zeitalter für die Abrechnung unterschiedliche Usanzen und Regelungen.
Interkantonale Kooperationen sind aber selbst im Kernbereich des Spitalwesens, also bei medizinischen Fragen, eher selten. Stattdessen balgt man sich hahnenkampfartig darum, wer überhaupt welche Leistungen erbringen darf – bestes Beispiel ist der aktuelle Streit um die Spitzenmedizin zwischen Zürich und dem Rest der Schweiz.
Was auf der medizinischen Seite Usus ist, macht auch vor der Informatik nicht halt, zumal in der für IT-Entscheide zuständigen Spitalleitung auch die Chefärzte vertreten sind – oft sogar so, dass sich die Spitzenvertreter der verschiedenen Abteilungen wie Chirurgie, Medizin und Gynäkologie im Turnus abwechseln und naturgemäss jedesmal ihre Partikularinteressen vorantreiben.


Keine technischen Hürden

Auch innerhalb eines Kantons herrscht zwischen den Spitälern meist mehr Gärtlidenken als Kooperationswille. Technische Gründe dafür gibt es kaum, wie Daniel Pürro, Informatik-Leiter beim Berner Spitalverbund Neue Horizonte, betont:
«Die IT verschiedener Spitäler kann durchaus zusammengelegt werden, auch wenn es sich um unterschiedliche Systeme handelt.» Hinderlich sind laut Pürro vielmehr «einerseits politische Interessen, aber auch das Karrieredenken gewisser Leute lässt eine Kooperation oft nicht zu.»
Mit anderen Worten: Viele Spitalleitungen investieren lieber mehr Geld in eine dezentrale Infrastruktur nach eigenem Gusto, mit der man sich profilieren kann, als sich mit Kosten-, Produktivitäts- und Qualitätsvorteil den Standards eines Verbunds zu unterwerfen.





Hansjörg Looser, Vorstandsvorsitzender des
St. Galler Vereins für Informatik im Gesundheitswesen, doppelt auf die Frage nach Hindernissen bei der IT-Spitalzusammenarbeit nach: «Separate Budgets erlauben es, trotz gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen, technischen Richtlinen und Standards im konkreten Fall anders zu entscheiden. Es fehlt ein Sanktions- und Motivationsinstrument, das Verbindlichkeit erzwingt.»
Für Looser ist die bisher unvollständige Digitalisierung der Prozesse in den Spitälern mit ein Grund für mangelnde Kooperation, allerdings eher kulturell als technisch bedingt: «Es besteht sicher ein Nachholbedarf zur Unterstützung der Prozesse entlang des Patientenpfades per IT. Deswegen sollte aber die Kooperation in der IT nicht in Frage gestellt werden. Ein wesentlicher Hemmschuh bleibt die unterschiedliche Wahrnehmung über die Bedeu-
tung der Informatik zur Prozessunterstützung – das ist also eine Kulturfrage.»
Im Kanton Bern wurde vor einem Jahr deutlich, dass die IT-Zusammenarbeit auch an der Politik scheitern kann: Der Grosse Rat lehnte Ende April 2004 das geplante kantonsweite Klinik-Informationssystem BEKIS ab und schickte den beantragten
29-Millionen-Kredit bachab.






Die Argumente der Gegner, zum Beispiel ein angebliches Klumpenrisiko durch die Abhängigkeit von einem Anbieter beim Betrieb eines einheitlichen Systems, fielen für die Mehrheit offenbar mehr ins Gewicht als klare, von Experten bestätigte Vorteile: Mit einem einheitlichen System steigt die Produktivität in Verwaltung und Pflegedienst, Ärzte und Pflegende müssten sich nicht bei jedem Stellenwechsel in ein neues System einarbeiten, und gerade kleinere Spitäler sind schon mit der Ausschreibung einer eigenen Spitalinformatik überfordert, ganz zu schweigen vom Betrieb.


Und es geht doch

Eine zunehmende Zahl erfolgreicher Kooperationen zeigt, dass es auch anders geht – bisher allerdings fast immer innerhalb des gleichen Kantons oder sogar nur zwischen einigen wenigen Spitälern. Vier Projekte sind uns besonders aufgefallen:


• Neue Horizonte: «Wenn man will, dann kann man», stellt Daniel Pürro fest und meint damit die umfassende IT-Kooperation des Berner Privatspitals Lindenhof mit den zwei öffentlichen Spitälern Aarberg und Belp. Unter dem Dach einer einfachen Gesellschaft namens Neue Horizonte arbeiten die drei Spitäler seit 1997 in einigen Bereichen eng zusammen. Angefangen hat es mit der Konzentration der Radiologie aufs Lindenhofspital, später kam eine komplett neue IT-Infrastruktur dazu: Zwar hatten die drei Spitäler bereits einzeln Offerten für die zur Jahr-2000-Umstellung nötige Runderneuerung der Informatik eingeholt, letztlich entschied man sich aber für eine einheitliche Gesamtlösung mit zentralem Rechenzentrum und per Metaframe angeschlossene Thin-Clients in den Spitälern.
«Das Einsparpotential ist enorm», rechnet Pürro vor: Drei neue dezentrale IT-Umgebungen hätten laut bereits vorliegenden Offerten zwischen 3,5 und 3,8 Millionen Franken gekostet. Das Gesamtbudget für die kooperative Lösung belief sich auf 1,55 Millionen und wurde nicht einmal voll ausgeschöpft – darin enthalten ist das Rechenzentrum samt Applikationen für Patientenadministration, Finanz, Personalwesen und Einsatzplanung sowie eine Security-Installation, die bei den dezentralen Projekten gar nicht berücksichtigt war.


• Infoval: Ende 2000 entschloss sich der Kanton Wallis, die geplante umfassende Informatisierung des Gesundheitswesens mit der Spital-IT zu starten. Zu diesem Zweck wurden vier Kernanwendungen realisiert, die heute sämtlichen öffentlichen Spitälern im Wallis zur Verfügung stehen: Patientenadministration inklusive Abrechnung nach Tarmed, ein klinisches Informationssystem mit elektronischem Patientendossier, ein Identity-Management-Server, der unter anderem mit doppelt geführten Patientenakten Schluss machen soll sowie eine Business-Intelligence-Umgebung mit Data Warehouse und analytischen Anwendungen, die den Verantwortlichen des Walliser Gesundheitswesens Entscheidungsgrundlagen auf Basis anonymisierter Patientendaten liefert.
Der medizinische Informatikdienst SIMAV betreut mit seinen rund
30 Mitarbeitern neben der InfoVal-Infrastruktur diverse weitere Anwendungen und bietet den Spitälern IT-Support und einen 24-Stunden-Pikettdienst an, insbesondere für das lebenswichtige klinische Informationssystem.


• VIG: Im Kanton St. Gallen besteht der Verein für Informatik im Gesundheitswesen VIG – Zweck ist die Koordination von strategischen Informatikfragen, wozu verschiedene Arbeitsgruppen gemeinsame Entscheidungsgrundlagen erarbeiten.
Die IT-Kooperation im Ostschweizer Kanton geht aber noch weiter:
St. Gallen betreibt für alle vier kantonalen Spitalregionen und einige weitere Institute ein gemeinsames Rechenzentrum mit SAP-Servern; eine Zusammenarbeit mit weiteren Ostschweizer Kantonen und Liechtenstein wird angestrebt.
Für die Anpassung der Basisanwendung auf die Bedürfnisse der einzelnen Spitäler sorgt ein SAP-CCC (Customer Competence Center), das sich im Lauf der Zeit zu einem IT-Kompetenzzentrum auch für weitere spitalübergreifende Applikationen entwickelt hat. Dazu kommt eine spezielle Sicherheitsdomäne für das Gesundheitswesen mit logisch vom übrigen Kantonsnetz getrennten 1-Gbps-Netzwerk, gemeinsamem Verzeichnisdienst und gemeinsamer Nutzung eines HIN-Mail-Gateways (Health Info Net) für den datenschutzkonformen Austausch sensitiver Personendaten übers Internet.


• Health Information Technologies AG: Wie schon beim e-Government mit der Dienstleistungsfirma Publis setzt man im Aargau auch punkto E-Health auf privatrechtlich organisiserte Hilfestellung: Mitte Oktober 2004 gründeten das Kantonsspital Aarau, die Klinik Barmelweid und die Asana-Gruppe mit Spitälern in Menziken und Leuggern die HINT AG. Die Initianten setzten damit einen Regierungsratsbeschluss vom Juli 2003 zur Gründung eines Informatikdienstleistungszentrums für Aargauer Spitäler um; der Verwaltungsrat setzt sich komplett aus Direktionsmitgliedern der beteiligten Spitäler zusammen. Der Firmensitz liegt am Standort der bisherigen Informatikabteilung des Aarauer Kantonsspitals.
Im Zentrum des Angebots, das sich ausdrücklich auch an kleinere Spitäler richtet, stehen die eigenen Produkte H-Webbuilder (browserbasierte Entwicklungsumgebung für Intranet-Anwendungen im Spitalumfeld) und H-Planer (grafisches Therapieplanungssystem), einige weitere eigenentwickelte Tools sowie ASP-Dienstleistungen für gängige Spitalsoftwarepakete, darunter ein Klinik-Informationssystem, Patientenadministration, Leistungserfassung und Disposition. Dazu kommen Integrations-, Outsourcing- und Supportdienstleistungen. Nach der Aufnahme der Geschäftstätigkeit am ersten Januar 2005 präsentiert die Website der Hint AG bereits per Anfang März eine ansehnliche Referenzliste, die neben den Gründungsmitgliedern verschiedene weitere Aargauer Spitäler,
aber auch ausserkantonale Klienten umfasst.

(ubi)


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