Verborgene Stärken entfalten
Quelle: Frank Rebmann

Verborgene Stärken entfalten

Von Frank Rebmann

Statt sogenannte Schwächen überwinden zu wollen, ist es sinnvoller, die starken Seiten dahinter zu entdecken und Talente zu nutzen.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2016/01

     

Ich bin zu perfektionistisch», «Ich kann mich nicht durchsetzen», «Ich werde schnell ungeduldig». Solche Aussagen hören Berater oft, wenn sie Personen fragen, warum sie mit bestimmten Aufgaben und Situationen Probleme haben. Diese listen dann gern detailliert ihre vermeintlichen Schwächen auf, so dass der Eindruck entstehen könnte, dass diese Person keinerlei Stärken aufweist. Dabei zeigt sich beim gezielten Nachfragen meist schnell: Die Person hat in ihrem Leben schon viele Herausforderungen gemeistert.
Auch Führungskräfte konzentrieren sich häufig auf Schwächen, wenn sie sich mit ihren Mitarbeitern zu Entwicklungsgesprächen zusammensetzen. Dann spielen die Schwächen eines Mitarbeiters teils eine so grosse Rolle, dass sich die Frage stellt, warum das Unternehmen diesem Mitarbeiter noch nicht gekündigt hat. Folgenden Punkten schenken die Chefs hingegen wenig bis gar keine Aufmerksamkeit:
- Was lief gut, und warum?
- Welche Kompetenzen zeigte der Mitarbeiter dabei?
- Wie kann er seine Stärken künftig noch besser entfalten?
Was gut war, wird nicht selten schnell abgehakt, um anschliessend die ganze Aufmerksamkeit auf die Schwächen und Versäumnisse des Mitarbeiters zu richten und darauf, was in der Vergangenheit nicht gut lief. Entsteht solch ein Ungleichgewicht, erleben Mitarbeiter die Entwicklungsgespräche vor allem als Kritikgespräche und blicken ihnen eher mit Unbehagen entgegen anstatt sich auf sie zu freuen.

Was gut läuft, erscheint oft als selbstverständlich


Wenn Menschen sich beruflich wie privat auf Schwächen statt auf Stärken konzentrieren, liegt das oft darin begründet: Was sie gut machen, erachten sie entweder als selbstverständlich oder ihr Können ist ihnen nicht bewusst. So erfüllt es etwa manch einen Texter nicht mit Stolz, dass er gut schreiben kann. Und einige exzellente Zuhörer sind keineswegs stolz darauf, dass sie gut zuhören können.
Anders verhält es sich mit den Denk- und Verhaltensmustern, an denen man sich regelmässig stösst. Sei es, weil wir ein anderes Wunschbild von uns im Kopf haben oder weil sie uns im Alltag tatsächlich Probleme bereiten. Mit solchen unerwünschten Denk- und Verhaltensmustern beschäftigen sich viele Menschen tagaus, tagein. Und diese «Schwächen» versuchen sie abzubauen statt ihre Stärken auszubauen.
Ähnlich verhält es sich bei vielen Führungskräften. Auch sie erachten das, was ihre Mitarbeiter gut können oder tun, oft als selbstverständlich. Zum Beispiel verlieren sie darüber, dass Mitarbeiter Termine zuverlässig einhalten oder selbständig Probleme lösen, keine grossen Worte. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die Verhaltensweisen, bei denen die Mitarbeiter ihrem Idealbild nicht entsprechen – selbst wenn diese für den Arbeitserfolg eine geringe Bedeutung haben.

Raus aus der Mittelmässigkeit

Ein Umdenken findet meist erst statt, wenn der Mitarbeiter das Unternehmen verlässt und ein Neuer seinen Platz einnimmt. Dann wird der frühere Mitarbeiter häufig glorifiziert. «Hans Schmidt war ein toller Mitarbeiter. Er hat zwar oft gemeckert, doch verkauft hat er wie kein Zweiter», heisst es dann. Oder: «Sabine Seifert war zwar etwas chaotisch, doch im Programmieren war sie ein Ass.» Plötzlich werden die Stärken des Ex-Mitarbeiters gewürdigt und seine Schwächen sind nur noch Anlass für Anekdoten. Und alle beklagen, dass dieser wertvolle Mitarbeiter das Unternehmen verliess – weil er meinte, er könne in ihm seine Fähigkeiten nicht entfalten.
Deshalb sollten Führungskräfte, wenn sie mit einem Mitarbeiter über dessen Arbeit und künftige Entwicklung sprechen, vor allem folgende Fragen erörtern:
- Warum hat der Mitarbeiter diese und jene Aufgabe gut erledigt?
- Welche besonderen Fähigkeiten zeigte er dabei?
- Wie sollte sein Arbeitsfeld künftig aussehen, damit er diese Fähigkeiten noch besser einsetzen kann?


Mitarbeiter erbringen nur Spitzenleistungen, wenn sie ihre Zeit und Energie auf die Dinge verwenden, bei denen sie überdurchschnittliche Fähigkeiten haben. Verwenden sie ihre Energie hingegen vor allem darauf, ihre Schwächen zu beseitigen statt ihre Talente zu entwickeln, entrinnen sie nie der Mittelmässigkeit. Ein Dirk Nowitzky wäre nie einer der besten Basketball-Spieler weltweit geworden, wenn er zugleich versucht hätte, den Nobelpreis in Physik zu erringen. Umgekehrt hätte Albert Einstein nie den Nobelpreis in Physik bekommen, wenn er zugleich versucht hätte, ein Top-Basketballspieler zu werden.

Schwächen: übertriebene Stärken

Das sollten Führungskräfte im Umgang mit ihren Mitarbeitern beachten. Denn ihre Aufgabe ist es nicht, dafür zu sorgen, dass jeder ihrer Mitarbeiter alles kann. Ihre Aufgabe ist es, die Mitarbeiter so einzusetzen, dass jeder seine Fähigkeiten entfalten und einbringen kann; ausserdem die Zusammenarbeit unter den Mitarbeitern so zu strukturieren, dass sie gemeinsam ein Spitzenteam bilden – unter anderem, weil sie sich wechselseitig unterstützen und so ihre individuellen Schwächen kompensieren.
Bei einem genauen Betrachten der sogenannten Schwächen von Mitarbeitern zeigt sich zudem oft: Ihre vermeintlichen Schwächen sind übertrieben ausgeprägte Stärken. So arbeitet zum Beispiel eine Person, die zur Pedanterie neigt, stets sehr ordentlich und gewissenhaft. Das heisst: Sie arbeitet strukturiert und prüft regelmässig, ob sie keine Fehler gemacht hat. Diese Eigenschaften benötigen nicht nur Controller und Programmierer. Zur Schwäche wird ein solches Verhalten erst,
- wenn der Mitarbeiter Aufgaben wahrnimmt, bei der dieses Verhalten den Erfolg eher verhindert als fördert, oder
- wenn er zum Beispiel jeden Arbeitsschritt aus Angst, einen Fehler zu machen, so oft kontrolliert, dass die meiste Arbeit liegen bleibt.

So verhält es sich bei fast allen Schwächen: Sie sind übertrieben ausgeprägte Stärken. Aus einer hohen Eigeninitiative kann schnell eine mangelnde Teamfähigkeit werden. Und eine sehr grosse Vorsicht kann zu mangelnder Entschlusskraft führen. Jedoch nur, wenn die betreffende Person eine Aufgabe wahrnimmt, bei der diese Verhaltensmuster nicht gefragt sind. Hierfür ein Beispiel: Wenn ein Flugzeugmechaniker die wichtigsten Teile eines Flugzeugs vor einem Flug mehrfach prüft, dann handelt er verantwortungsbewusst. Denn ein technischer Defekt beim Fliegen kann Hunderte von Menschen das Leben kosten. Beschäftigt sich hingegen ein Einkäufer wochenlang mit der Frage, ob er die neuen Kugelschreiber bei diesem oder jenem Grosshändler kauft, dann ist dies vermutlich ein Zeichen mangelnder Entschlusskraft. Das heisst: Das gleiche Verhalten kann eine Stärke und eine Schwäche sein – abhängig davon, in welcher Situation es gezeigt wird.

Rollenverständnisse aufbrechen

Diese Zusammenhänge sind vielen Menschen nicht bewusst. Wenn sie im (Arbeits-)Alltag häufig mit denselben Schwierigkeiten kämpfen, verdichtet sich bei ihnen schnell das Gefühl: Ich habe hier eine Schwäche. Dieses Gefühl wird mit der Zeit zuweilen so stark, dass sie ihre Stärken aus dem Blick verlieren. Entsprechend unsicher werden sie.
Dann ist meist ein neutraler Gesprächspartner hilfreich, der ihnen wieder die Augen öffnet – nicht nur für ihre offensichtlichen Stärken, sondern auch für die Stärken, die sich hinter ihren Schwächen verbergen. Dann wird ihnen oft auch klar, dass sie auch von vielen ihrer vermeintlichen Schwächen profitieren könnten, sofern sie diese zur richtigen Zeit und in den richtigen Situationen aktivieren.
Häufig wird dann auch deutlich, dass viele der vermeintlichen Schwächen aus einem bestimmten Rollenverständnis resultieren. So sind zum Beispiel viele Verkäufer überzeugt davon, dass ein Top-Verkäufer mit jeder Person sozusagen im Handumdrehen Freundschaft schliessen können sollte. Ein Irrglaube – denn viele Kunden empfinden ein entsprechendes Verhalten als anbiedernd und unprofessionell. Und manchen Chef plagen Selbstzweifel, weil er der Auffassung ist, eine Führungskraft müsse stets wie ein Fels in der Brandung stehen und dürfe nie Unsicherheit zeigen. Ebenfalls ein Irrglaube: Viele Mitarbeiter identifizieren sich gerade mit Vorgesetzten, die sich menschlich und nahbar zeigen.
Ein solches Augen-Öffnen ist auch fruchtbar, weil viele Menschen, die häufig gegen dieselben Barrieren stossen, glauben, sich radikal verändern zu müssen. Wenn die meisten unserer Schwächen aber nur übertrieben ausgeprägte Stärken sind, ist dies nicht nötig. Dann genügen oft kleine Verhaltenskorrekturen, um wieder in die Erfolgsspur zu gelangen.

So erkennen Sie Ihre Stärken

Es gibt Stärken, die uns bewusst sind. Und es gibt Stärken, die uns kaum oder gar nicht bewusst sind – entweder, weil wir die betreffenden Fähigkeit nicht oft einsetzen oder sie selbstverständlich nutzen. Folgende Fragen helfen, sich Stärken bewusst zu machen:
- Was fiel mir schon immer leicht?
- Welche Aufgaben geben mir Energie, bauen mich auf?
- Bei welchen Tätigkeiten vergesse ich die Zeit?
- Wobei erziele ich regelmässig sehr gute Ergebnisse, ohne mich gross anstrengen zu müssen?
- Was lerne ich besonders schnell?
- Wozu fühle ich mich hingezogen und was verleiht mir neue Kraft, selbst wenn ich zuvor müde, gestresst oder unmotiviert war?
- Mit welchen Anliegen, Fragen oder Problemen kommen andere Menschen auf mich zu und bitten mich um Rat?

Der Autor

Der Autor
Frank Rebmann, Stuttgart, arbeitet als (Führungskräfte-)Trainer, Berater und Coach für Unternehmen. Er ist Experte für das Themenfeld «Ermitteln und Entwickeln der Stärken von Führungskräften und ihren Mitarbeitern». Der zertifizierte Master Trainer und systemische Coach verfügt über 16 Jahre Erfahrung als Führungskraft und 20 Jahre Erfahrung als Verkäufer in Industrie- und Handelsunternehmen. Nähere Infos: www.staerkentrainer.de


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