Flexibel führen, fordern, fördern

Von Reiner Voss

Führungskräfte sollten ihr Verhalten situativ ihrem Gegenüber anpassen. Paul Herseys 40 Jahre alte These ist im heutigen IT-Sektor aktuell wie nie zuvor.

Artikel erschienen in Swiss IT Magazine 2016/05

     

Den idealen Führungsstil gibt es nicht», lautet Paul Herseys Botschaft, der als Erfinder des situativen Führens gilt. Führungskräfte seien umso erfolgreicher, je flexibler sie im Betriebsalltag agieren. Mal gilt es – abhängig von der Aufgabe und Situation sowie dem Gegenüber – Mitarbeiter zu loben. Mal gilt es, sie zu korrigieren oder zu unterstützen, damit sie eine Aufgabe erfüllen können. Mal sollte sich eine Führungskraft bewusst zurücknehmen.
Der Alltag sieht allerdings meist anders aus. Führung ist oft auf das Geben von Anweisungen und Feedback reduziert. Auf der Strecke bleibt dabei der Entwicklungsgedanke, der mit dem situativen Führen verbunden ist. Die Ursache dafür liegt unter anderem darin, dass sich viele Führungskräfte von den zahlreichen Aufgaben überfordert fühlen, die auf ihren Schultern lasten.
Doch Vorsicht: Liegt der Fokus allein auf der dringlichen Tagesarbeit, beginnt ein Teufelskreislauf. Denn fördern und entwickeln Führungskräfte ihre Mitarbeiter nicht, können sie ihnen auch keine komplexeren Aufgaben übertragen. Somit steigt sukzessiv ihre eigene Belastung. Denn im Betriebsalltag werden sie permanent mit neuen Herausforderungen konfrontiert – zum Beispiel, weil Kunden neue Wünsche und Anforderungen formulieren oder weil neue Technologien neue Problemlösungen ermöglichen.
Hinzu kommt, dass Mitarbeiter, deren Kompetenz und selbständiges Arbeiten zu wenig gefördert wird, fortwährend am Zeitbudget ihrer Vorgesetzten knabbern. Etwa durch permanente Rückfragen oder weil regelmässig Nacharbeiten nötig sind. Dadurch verlangsamen sich zudem ganze Prozesse.

Wie selbständig sind sie?

In der Entwicklung von Mitarbeitern lassen sich, abhängig von ihrer Kompetenz und Leistungsbereitschaft, vier Stufen der Selbständigkeit unterscheiden.

Selbständigkeitsgrad R1: Der Mitarbeiter ist, wenn er mit einer Herausforderung konfrontiert wird, weder fähig noch bereit, diese zu lösen. Ihm fehlen sowohl das nötige Können als auch die erforderliche Motivation.

Selbständigkeitsgrad R2: Der Mitarbeiter ist zwar bereit, die neue Aufgabe oder Herausforderung anzugehen, aber ihm fehlt die erforderliche Kompetenz.

Selbständigkeitsgrad R3: Der Mitarbeiter verfügt über das nötige Können, um die Aufgabe anzugehen, aber ihm fehlt die nötige Motivation, zum Beispiel, weil er noch unsicher ist.

Selbständigkeitsgrad R4: Der Mitarbeiter hat, etwa weil er ähnliche Herausforderungen schon löste, nicht nur das nötige Können, um die Aufgabe selbständig zu erfüllen, er ist auch dazu motiviert.

Abhängig vom Entwicklungsstand und Selbständigkeitsgrad eines Mitarbeiters sollte dessen Führungskraft ein unterschiedliches Führungsverhalten zeigen. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass die vier Stufen der Selbständigkeit sich stets auf eine Aufgabe beziehen. Denn fachliche Kompetenzen und Leistungsbereitschaften sind von Mitarbeiter zu Mitarbeiter und von Aufgabe zu Aufgabe verschieden.

Welcher Stil passt wann?

Beim Führungsverhalten lassen sich zwei Grundkategorien unterscheiden: ein aufgabenorientiertes und ein beziehungsorientiertes Verhalten.
- Das aufgabenorientierte Verhalten konzentriert sich darauf, wann und wie etwas getan werden sollte. Die Führungskraft gibt ein Feedback zum Ergebnis. Das Ziel eines solchen Führungsverhaltens ist es, die Kompetenz anderer Menschen zu entwickeln.
- Das beziehungsorientierte Verhalten zielt auf die Eigeninitiative von Menschen und ihrer Einstellung zu einer Aufgabe ab. Beispiele für ein beziehungsorientiertes, unterstützendes Verhalten sind Loben, Zuhören und Ermutigen. Entscheidend ist, die Person in das Lösen des Problems miteinzubeziehen. Ein beziehungsbezogenes Führungsverhalten baut die Selbstverpflichtung der Mitarbeiter aus.

Aus diesen beiden Kategorien, dem aufgaben- und dem beziehungsorientierten Verhalten, lassen sich wiederum vier Führungsstile ableiten.

Stil 1 – Anweisen (S1): Dieser Führungsstil zeichnet sich durch ein stark dirigierendes und wenig unterstützendes Verhalten aus. Der Vorgesetzte gibt dem Mitarbeiter detaillierte Anweisungen, wie eine Aufgabe zu erfüllen ist, und überwacht eng das Vorgehen und die Leistung.


Stil 2 – Überzeugen (S2): Dieser Führungsstil wird durch ein stark dirigierendes und stark unterstützendes Verhalten charakterisiert. Der Vorgesetzte erläutert Entscheidungen, erfragt und lobt Vorschläge und gibt genaue Anleitungen. Vom Mitarbeiter sind Ideen zum Vorgehen erwünscht. Die Entscheidungen trifft aber weiterhin die Führungskraft.

Stil 3 – Partizipieren (S3): Dieser Stil ist gekennzeichnet durch ein stark unterstützendes und wenig direktives Verhalten. Er zielt primär auf ein Stärken und Bewahren des Mitarbeiter-Engagements ab. Wer diesen Stil nutzt, trainiert und hört zu, und ermutigt zu eigenverantwortlichen Problemlösungen.

Stil 4 – Delegieren (S4): Dieser Stil dirigiert und unterstützt wenig. Mitarbeiter sollen eigenständig handeln, der Vorgesetzte sorgt für die nötigen Ressourcen. Dabei bestimmt der Vorgesetzte weiterhin, welche Ergebnisse gewünscht sind, und stellt sicher, dass Ziele klar sind. Er beobachtet zudem Leistungen.

Wenn Führungskräfte die vier Führungsstile und die Selbständigkeitsgrade ihrer Mitarbeiter kennen, können sie entscheiden, welches Führungsverhalten bei einer Aufgabe angemessen ist. Sind Aufgaben für Mitarbeiter neu und ihre Kompetenz noch niedrig (Selbständigkeitsgrad R1), ist oft Anweisen angesagt. Bei Mitarbeitern, die mit hoher Bereitschaft, aber geringem Können an eine neue Aufgabe herangehen (Selbständigkeitsgrad R2), gilt es zu motivieren, zu erklären und zu trainieren. Haben Mitarbeiter hingegen schon gute Fähigkeiten entwickelt, scheuen sich aber, diese anzuwenden (Selbständigkeitsgrad R3), dann ist eine mentale Unterstützung nötig: Die Führungskraft beteiligt Mitarbeiter am Entscheidungsprozess, überlässt ihnen aber die Umsetzung. Arbeiten Mitarbeiter routiniert und zeigen sich leistungsbereit (Selbständigkeitsgrad R4), kann die Führungskraft die Aufgabe delegieren.

Mitarbeitende fördern lohnt sich

Verhalten sich Führungskräfte so flexibel, wird es ihnen möglich, die Kompetenz ihrer Mitarbeiter mit der Zeit auszubauen. In der Folge müssen sie seltener eingreifen und haben mehr Zeit für ihre Kernaufgaben. Zudem können Mitarbeiter produktiver arbeiten, wodurch sie selbst zufriedener werden. Damit erhalten Führungskräfte ein Vielfaches der Zeit zurück, die sie in die Entwicklung ihrer Mitarbeiter investiert haben.
Mitarbeiter gezielt zu befähigen und zu ermächtigen, wird zu Zeiten steigender Veränderungsdynamik immer wichtiger. Denn was wären die Alternativen? Entweder die Führungskraft erledigt mittel- bis langfristig fast alle Aufgaben selbst, weil den Mitarbeitern zunehmend die Kompetenz fehlt. Das führt zu einer Überlastung der Führungskraft. Oder aber das Unternehmen stagniert in seiner Entwicklung. Dann wird es langfristig wohl irgendwann vom Markt verschwinden.

Der Autor

Reiner Voss ist der Geschäftsführer des Trainings- und Beratungsunternehmens Voss+
Partner aus Hamburg. Das Institut bietet unter anderem das Original «Situational Leadership»-Seminar von Dr. Paul Hersey in Deutschland, Österreich und der Schweiz an. Ausserdem bildet es firmeninterne Trainer zum Thema aus. Nähere Infos unter www.voss-training.de


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